Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
sagte sie und fragte sich, ob es wohl stimmte. Dann schob sie sich den Daumen in den Mund und wunderte sich, dass ihre Mutter nicht einmal den Versuch unternahm, ihn wieder herauszuziehen.
Das Summen einer Fliege drang vage an ihre Ohren. Sie lag dösend auf ihrer Decke und spürte die Wärme der Sonne auf den Rückseiten ihrer Beine, ihren Schultern und Armen. Clem öffnete die Augen einen Spaltbreit. Johnny lag neben ihr. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, und seine gebräunten Schultern hoben und senkten sich im Rhythmus seines Atems. Der Anblick seines Körpers, der ihr so vertraut war wie ihr eigener, hatte etwas Tröstliches. Der Schlaf hatte vorübergehend die Kluft zwischen ihnen geschlossen. Sie kniff die Augen zu. Sie wollte nicht an den Verrat denken, den sie im Herzen begangen hatte, an den seltsamen Nachmittag, der hinter ihnen lag. Als sie von den Felsen zurückgekommen war, hatte Annie zusammengerollt auf ihrer Decke gelegen und geweint. Johnny und Frank hatten schweigend daneben gesessen. Sie vermutete, dass es etwas mit ihrem treulosen Herz zu tun hatte. Sie tat den Menschen weh. Aus Frank hatte sie nichts herausbekommen. Er hatte lediglich gesagt, Annie sei müde und rührselig, und Johnny hatte abfällig die Achseln gezuckt, als interessiere ihn all das nicht. Er hatte nur einen Gedanken – Wind.
Sie schlug die Fliege mit einer unwirschen Handbewegung weg, doch die Ereignisse des Nachmittags ließen sich nicht so leicht verjagen, sondern trieben wie herrenloses Strandgut durch ihre Gedanken. Sie hatte sich neben Annie gesetzt, den Arm um sie gelegt und ihre Schulter gestreichelt, um sie zu trösten, während die Männer weiter nur tatenlos dagesessen hatten. Nach einer Weile hatte sie ihr aufgeholfen und war mit ihr zum Wasser hinuntergegangen, wo sie sie ins seichte Wasser gesetzt und ihr das Gesicht gewaschen hatte. Irgendwann waren Annies Tränen versiegt, und als Clem sie gefragt hatte, was los sei, war ihre Miene so trostlos und niedergeschlagen gewesen, dass sie nicht weiter nachgehakt hatte. Es ist nicht wichtig , hatte sie nur geantwortet, und als Annie später gesagt hatte, sie wolle zur Little Utopia hinüberschwimmen und sich eine Weile hinlegen, hatte Clem ihr geholfen, sich das T-Shirt auszuziehen, bevor sie mit kräftigen, regelmäßigen Zügen davongeschwommen war, mit nichts als einem leisen Kräuseln der Wasseroberfläche und einem eigentümlichen Nachhall von Traurigkeit in ihrem Kielwasser. Clem hatte am Ufer gestanden und ihr nachgesehen, bis sie sich aus dem Wasser gestemmt hatte und unter Deck verschwunden war, ohne sich noch einmal umzudrehen. Schon bald war Roberta Flacks zärtliche Stimme übers Wasser geschwebt. Clem hatte sich abgewandt und war zu den anderen zurückgekehrt. Wie still und niedergeschlagen danach alle vier gewesen waren. All die unausgesprochenen Dinge hatten wie eine unheilvolle Wolke über ihnen gehangen, bis sich einer nach dem anderen hingelegt hatte und eingeschlafen war.
Das Licht hatte sich verändert. Die Sonne war weitergewandert und hatte neue Schatten über den Strand geworfen. Außer dem sanften Klatschen der Wellen, vereinzelten Vogelschreien und schweren Atemzügen irgendwo hinter ihr herrschte Stille. Schläfrig wandte sie den Kopf. Frank saß mit seinem Buch auf dem Schoß im Schatten eines Baums und schnarchte leise. Schlafend wirkte er viel zerbrechlicher; er hatte eine Verletzlichkeit an sich, die sie sonst nur selten an ihm zu sehen bekam. Ihr treuloses Herz regte sich leicht bei seinem Anblick, obwohl er plötzlich alt und so fremd aussah. Auch Smudge lag, alle viere von sich gesteckt, tief und fest schlafend im Sand. Es war, als hätte sie der Schlaf übermannt, hier in diesem Paradies der Stille. Clem schloss die Augen wieder, rückte ein wenig näher an Johnny heran und ließ sich von der Sicherheit des Schlafs umfangen.
Johnny spürte es im Traum: eine kaum merkliche Berührung an seinem Arm, das Streicheln eines Atemzugs. Da war es wieder. Auf einen Schlag war er wach. Er fuhr hoch und sah sich um. Er sah es am Wasser, am Himmel, spürte es auf seinem Gesicht, in seinen Haaren. O mein Gott! Seine Gebete waren erhört worden. Sie hatten Wind! Puffige Wölkchen schlichen auf Zehenspitzen näher, bauschten sich über seinem Kopf. Er sprang auf, um die Brise auf seiner Brust zu spüren. Da war sie, warm und leise. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so über das Aufkommen von Wind gefreut zu haben, jemals so gefangen
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