Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
ja?«, fragte ihre Mutter und lachte seltsamerweise ganz leise dabei. Diese Verräter, alle beide. Sie steckten unter einer Decke. Und sie war die Dumme. Sie hatte es kommen sehen.
Sie bekam die Antwort ihres Vaters nicht mit. Dann gingen die beiden in die Küche und schlossen die Tür, sodass sie das kleine Klofenster aufmachen und sich hinausbeugen musste, um sie hören zu können. Ihre Mutter wollte wissen, ob Clemmie etwas gegessen hatte und wie das Essen im Hotel gewesen sei. Sie plauderten über Avocados und Garnelen, als wäre es ein ganz normaler Tag. Vielleicht hatte sie ja alles ganz falsch verstanden, und das hier gehörte zu dem Trick. Trotzdem blieb sie in der Toilette. Solange ihr Vater nicht laut lachend alles aufklärte, würde sie nicht riskieren, wie eine Idiotin dazustehen.
Nach einer Weile hörte sie ihn ihren Namen rufen, doch sie rührte sich nicht vom Fleck, sondern blieb auf dem geschlossenen Toilettendeckel im Dunkeln sitzen. Das Licht im Flur ging an, und sie hörte seine Schritte, als er die Treppe hinauf und dann an der Tür vorbei zu ihrem Zimmer ging. »Clemmie?«, rief er. Sie hörte, dass er sämtliche Schranktüren öffnete. Dann ging er ins Schlafzimmer ihrer Eltern, schob auch dort die Schranktür auf und rief ihren Namen. Schließlich kam er die Treppe wieder herunter und blieb vor der Toilette stehen. Sie sah seine Hosenbeine durch das große Loch, das er neben dem Türgriff ausgesägt hatte, als sie sich vor ein paar Jahren versehentlich eingesperrt und er die Klinke ersetzt hatte.
Er drehte den Türknauf und klopfte leise an die Tür. »Clemmie?« Er klang müde. Vielleicht änderte er ja seine Meinung. »Ich muss los, Schatz. Willst du mir denn nicht Auf Wiedersehen sagen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er klopfte noch einmal. »Clemmie? Kommst du nicht heraus?«
Sie schüttelte wieder den Kopf und wartete. Sie wünschte sich, dass er die Tür eintrat und sie um Verzeihung anflehte.
»Na gut, Schatz. Wir sehen uns bald.«
Sie starrte durch das Loch, in der Hoffnung, ihn dadurch aufzuhalten. Zuerst sah sie noch den blauen Hosenstoff, dann war er verschwunden.
In dieser Nacht wurde sie von einem seltsamen Geräusch geweckt. Blinzelnd lag sie im Bett und lauschte in die Dunkelheit. Es war eine Art Ächzen, das in wiederkehrenden Stößen ertönte. Sie fuhr hoch. Jetzt wusste sie, was es war: Bestimmt wurde die vorgetäuschte Welt draußen abmontiert. Ganz leise schlug sie die Bettdecke zurück, stand auf und schlich auf Zehenspitzen zum Fenster, wo sie reglos stehen blieb. Vorsichtig berührte sie den Vorhang mit den Fingerspitzen. Dann riss sie ihn abrupt zur Seite, in der Erwartung, sie auf frischer Tat zu ertappen – Männer in Overalls, die sie schuldbewusst ansahen und eilig von ihren Leitern kletterten. Doch alles sah genauso aus wie sonst – der orangefarben erhellte Londoner Himmel und die Gärten der Nachbarn. Sogar den Regen hatten sie eingeschaltet. Sie sah ihn im Lichtkegel der Straßenlampe gegenüber. Dann hörte sie das Geräusch erneut und drehte sich um: Es kam aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern.
Sie trat zur Tür, öffnete sie mit ihrem Spezialgriff, ganz leise, sodass niemand sie hörte, und spähte auf den Korridor hinaus. Die Tür zum Schlafzimmer war nur angelehnt. Wieder drang das Geräusch an ihre Ohren, klarer und lauter diesmal. Sie schlich hinaus und trat auf den Teppich, sorgsam darauf bedacht, die knarzende Diele nicht zu berühren. Vor der Tür blieb sie stehen und schob sie ein Stück auf, sodass sie den Umriss einer Gestalt auf der einen Seite des Bettes erkennen konnte. Die andere Seite war leer. Ihr Vater war fort. Das seltsame Geräusch kam von ihrer Mutter – ein ersticktes Schluchzen, das sich ein bisschen wie Schluckauf anhörte.
Auf Zehenspitzen trat sie zu ihrer Mutter, doch sie konnte ihr Gesicht nicht erkennen, da sie es ganz fest in das Kissen presste, das sie im Arm hielt. Es sah aus, als würde sie lachen. Aber das stimmte nicht, das wusste Clemmie. Sie hatte ihre Mutter noch nie weinen gesehen, deshalb blieb sie eine Weile stehen und sah ihr zu. Ganz langsam dämmerte ihr, dass alles echt war, keine Show, kein gemeiner Scherz. Sie zog die Decke zurück, kletterte ins Bett und zwängte sich neben ihre Mutter auf das Kissen, deren Schluchzer plötzlich lauter waren, nun da sie das Gesicht vom Kissen weggedreht hatte. Sie spürte die Feuchtigkeit des Bezugs an ihrem Hals.
»Alles wird wieder gut, Mami. Alles wird wieder gut«,
Weitere Kostenlose Bücher