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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Bescheid. Es war alles ein abgekartetes Spiel. Was, wenn die Bäume ringsum gar nicht echt waren? Die Straße? Wenn alles nur Teil des gemeinen Streichs war, der ihr gespielt wurde? Sie schloss die Augen und riss sie ganz schnell wieder auf, in der Hoffnung, sie zu erwischen. Sie blinzelte hastig, doch alles sah genauso aus wie vorher. Die machten ihre Sache gut. Wer auch immer sich das überlegt hatte, musste es von langer Hand geplant haben – am besten, sie wartete, bis es Nacht wurde und sie alles abmontierten oder die Reparaturen durchführten, und versuchte ihr Glück dann noch einmal.
    Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke: Während ihres Ausflugs ans Meer hatte sie völlig vergessen, zwischen den Laternenpfosten die Luft anzuhalten, und siehe da – schon war etwas Schlimmes passiert. Und was noch viel schlimmer war: Es war auch noch Freitag, der Dreizehnte, so wie die Frau mit der tiefen Stimme prophezeit hatte.
    »Wach auf, Clemmie, wir sind gleich zu Hause.«
    »Ich schlafe nicht«, sagte sie und vergaß für einen kurzen Moment ihr Versprechen, nie wieder ein Wort mit ihm zu reden. Aber sie hatte tatsächlich geschlafen. Das Weinen hatte sie müde gemacht.
    Daddy hatte sie auf den Schultern vom Maisfeld zurück zum Wagen getragen. Wie anders die Welt von dort oben ausgesehen hatte, viel größer, und die Luft hatte auch viel frischer gerochen. Sie hatte die Felder erkennen können, die Muster, die der Wind schuf, als er zwischen den Maisstauden hindurchblies, und sogar das glänzende Dach des Autos, frustrierend nahe – sie hatte gedacht, sie sei viel weiter gelaufen. Es musste doch eine halbe Ewigkeit gedauert haben, bis er sie gefunden hatte. Sie war quer durch das Feld gelaufen, dann durch ein anderes und auf eine steile Straße hinaus. Irgendwann hatte sie aufgehört zu weinen und registriert, dass sie sich offensichtlich verlaufen hatte. Es war ein seltsames Gefühl gewesen – das erste Mal, dass sie erfuhr, was Freiheit bedeutete. Es hatte ihr gut gefallen. Sie hatte zu den weißen Schäfchenwolken hinaufgesehen, zu den Bäumen ringsum, die im Wind schwankten, den Kitzel gespürt, den Naturkräften ausgesetzt zu sein, und sich gefragt, welchen Weg sie einschlagen sollte. Sie hatte sich auszumalen versucht, was Jesus in ihrer Situation getan hätte, und beschlossen, dass er nach rechts gegangen wäre. Schließlich war er Rechtshänder gewesen. Sie konnte es zwar nicht beschwören, aber auf den Gemälden in der Kirche befanden sich der Himmel und die Engel stets rechts von ihm – wahrscheinlich damit er ihnen die Hände schütteln und Autogramme geben konnte –, wohingegen der Teufel und die Hölle immer auf der linken Seite abgebildet waren. Jesus würde bestimmt in das Dorf gehen, das sie in der Ferne erkennen konnte. Und alle Leute würden angelaufen kommen, um ihn zu preisen und ihm die Füße zu waschen. Diesen Empfang erwartete sie nicht für sich, aber vielleicht würde sie eine nette alte Dame finden, die sie als geheimnisvolle Waise bei sich aufnehmen würde. Josef wäre ganz bestimmt nicht nach Somerset gegangen. Bestimmt kehrte er nach einem harten Tag als Tischler lieber zu Jesus und Maria zurück und spielte mit ihnen Scrabble aus eigens geschnitzten Holztäfelchen. In diesem Moment hatte ihr Vater jede Chance auf ein neues Leben als Waise jäh zerstört, indem er ihren Namen quer übers Feld gerufen hatte. Und ehe sie sich’s versah, hatte er auf der Straße gestanden und gewinkt. Mit klappernden Absätzen war sie die Straße hinuntergehastet, doch gegen ihn hatte sie nicht den Hauch einer Chance gehabt – immerhin hatte er beim letzten Schulsporttag das Wettrennen der Väter gewonnen. Nach wenigen Metern hatte er sie eingeholt und die Arme um sie geschlungen. Sie hatte sich stocksteif gemacht, trotzdem hatte er sie hochgehoben, ohne sich daran zu stören, dass sie seinen Anzug ganz schmutzig machte, weil sie so heftig nach ihm trat.
    Beim Nachhausekommen schob Clemmie sich an ihrer Mutter vorbei, die sie völlig aufgelöst im Flur begrüßte. »Sieh sie dir bloß mal an, Jim!«, rief sie, während Clemmie die Treppe hinaufstürmte und die Toilettentür hinter sich zuknallte. Die Toilette war der einzig sichere Ort im Haus, weil die Tür im Gegensatz zu den anderen ein Schloss zum Verriegeln hatte.
    Sie lauschte der Unterhaltung ihrer Eltern. Ihre Mum war außer sich vor Sorge gewesen. Ihr Vater erzählte ihr von der Autopanne und ihrem Ausflug. »Dann hast du es ihr also gesagt,

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