Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Erstarrung gerissen.
Annie sah ihn nervös an.
Clem gähnte, streckte sich und legte ihr Buch zur Seite. »Ich glaube, ich gehe eine Runde schwimmen«, sagte sie.
Er sah zu, wie sie aufstand, bewunderte ihren wunderschönen, gebräunten Körper. Er wollte nicht, dass sie sich auszog und damit Franks gierigen Blicken neue Nahrung bot. Doch er war selbst schuld daran. Schließlich hatte er sie ihm auf dem Silbertablett serviert. Inzwischen war er fest davon überzeugt, dass diese ganze Episode geschickt eingefädelt worden war – es war reine Absicht gewesen, dass Annie ihn bei ihrem Ausflug zum Beerensammeln verführt hatte, damit er ein schlechtes Gewissen hatte und sich verpflichtet sah, Wiedergutmachung zu leisten. Er hatte sich von ihm an der Nase herumführen lassen. Wie hatte er so dumm sein können?
»Kommst du mit, Smudge?«, fragte Clem und streckte die Hand aus. »Sollen wir von den Felsen runterspringen?«
Johnny beobachtete, wie sie den Strand hinabhüpften. Clem schlug ein Rad nach dem anderen, und Smudge versuchte, es ihr nachzutun. Die beiden waren so unbeschwert und ahnungslos. Und genauso sollte es auch bleiben. Ihm fiel auf, dass Annie sich nun, da sie nur noch zu dritt waren, nicht wohlzufühlen schien. Ihre Hände zitterten, was jedoch ebenso gut am Alkohol liegen konnte.
»Du wirkst heute so unbeteiligt, Johnny«, sagte Frank in die Stille hinein und nahm dieselbe Haltung ein wie er – die Beine lang ausgestreckt und an den Knöcheln gekreuzt. Johnny schwieg.
»Nicht dass es die schlechteste Methode wäre«, fuhr Frank fort. »Ganz im Gegenteil. Ohne diese Fähigkeit wären wir Gefangene unserer Hilflosigkeit, unserer Hoffnungslosigkeit, Opfer banalster Bedürfnisse …«
»Halt verdammt noch mal die Schnauze, Frank«, fuhr Johnny ihn an. Und die Worte hörten sich so gut in seinen Ohren an. Er war nicht wütend, nein, er hatte bloß dieses beschissene Spielchen endgültig satt.
Verblüfft drehte Frank sich zu ihm um, während Johnny sich vorbeugte und an einem alten Mückenstich am Schienbein herumzupfte. Ohne Clems Gegenwart brauchte er dieses Spielchen nicht länger mitzuspielen.
»Du kannst mit dem Blödsinn aufhören, Frank«, sagte er und sah ihm in die Augen. »Ich weiß es.«
»Was weißt du?«, fragte Frank und beugte sich interessiert vor.
»Ich weiß, was du bist.« Johnny zündete sich eine Zigarette an und sah Annie nach der schwarzen Tasche mit der Whiskeyflasche greifen.
»Und was bin ich?« Der Anflug eines Lächelns spielte um Franks Lippen.
Johnny ließ langsam den Rauch entweichen. »Es ist mir egal, was du tust. Es ist mir egal, wie du es rechtfertigst, weil ich weiß, dass dir schon irgendein Argument einfällt. Aber ich will nichts damit zu tun haben. Nichts.«
Frank holte Luft, als wollte er etwas sagen, schien sich jedoch eines Besseren zu besinnen. Er starrte aufs Meer hinaus, löste seine gekreuzten Knöchel und kreuzte sie neuerlich.
»Und noch was – lass deine dreckigen Pfoten von meiner Frau«, fügte Johnny hinzu.
Frank hob in gespielter Ergebenheit die Hände. »Wie du willst, Johnny.« Dann lehnte er sich zurück und nickte nachdenklich.
Annie kauerte mit der schwarzen Tasche auf dem Schoß auf dem Boden und schob verstohlen ihre Hand hinein.
»Annie, Schatz«, sagte Frank keineswegs unfreundlich. Annie sackte noch mehr in sich zusammen. Als sie für einen kurzen Moment unter dem dichten Vorhang ihres Haars hervorspähte, erhaschte Johnny einen Blick auf ihre Augen und registrierte das Ausmaß ihrer Angst vor Frank. »Was hast du Johnny erzählt?«
»Gar nichts«, antwortete sie. Viel zu schnell.
»Gib ihr nicht die Schuld«, sagte Johnny.
»Gar nichts, Schatz?«, hakte Frank nach, ohne Johnny zu beachten.
»Die Wahrheit«, flüsterte sie. Johnny sah, dass sie all ihren Mut zusammennahm. »Er kennt die Wahrheit«, flüsterte sie.
»O Annie.« Frank ließ den Kopf sinken und massierte sich seufzend die Stirn, als wäre das alles ein einziger Witz. »Was hat sie dir denn erzählt?«, fragte er. In seiner Stimme lagen Belustigung und Resignation, als wäre all das schon tausendmal passiert. Einen Moment lang wusste Johnny nicht, was er denken wollte. »Was denn? Dass ich eine Art Superbulle war? Dass ich Verdächtige befragt habe? Dass ich der Anführer eines Pädophilenrings war?«
Wieder nahm Johnny einen Zug an seiner Zigarette. In der Ferne sprangen Clem und Smudge Hand in Hand von den Felsen. »Ganz genau, Mr Samariter.«
Für den
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