Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
gewesen zu sein. Das war ihre Rettung. Bald wären sie frei, weit weg von all der Hässlichkeit. Er spürte bereits, wie sie von ihm abzufallen begann, wie sich die Last von seinen Schultern hob. Er und Clem, bald wären sie fort.
»Clem! Clem!«, rief er, beugte sich über die schlafende Gestalt neben ihm und berührte sie behutsam. »O Clem, meine Clem. Endlich können wir weg von hier! Wir können weg. Wir haben Wind« Er küsste sie auf die Wange, wieder und wieder. Sie regte sich verschlafen, dann schlug sie die Augen auf und lächelte ihn an. Sie sprang nicht auf und legte einen Freudentanz hin, wie sie es vor einer Woche noch getan hätte. Innerhalb weniger Tage hatte sich alles von Grund auf verändert, und er fragte sich, ob sie überhaupt Interesse daran hatte, dieser Hölle zu entfliehen.
»Frank!«, rief er und lief zu dem Baum hinüber. »Wir haben Wind! Los, lass uns aufbrechen!«
Frank und Smudge wachten auf. Doch auch sie sprangen nicht vor Freude auf. Er war ganz allein in seiner überschäumenden Begeisterung.
»Aber wir haben ja den Kuchen noch gar nicht gegessen!«, sagte Smudge, die sich keinen Deut um den Wind scherte. Sie stand auf, um den Kuchen in Augenschein zu nehmen, während Johnny zum Ufer rannte. Der Wind hatte das Meer völlig verändert: Das reglose Hellblau war zu einem dunklen, gekräuselten Blau geworden. Klatschend schlugen die Wellen an den Strand. Während sie geschlafen hatten, war die Natur zu neuem Leben erwacht. Die Little Utopia drehte sich nicht länger müßig im Kreis, sondern hatte die Nase im Wind und wippte auf den Wellen, die Ankerkette war straff gespannt, bereit, endlich weiterzusegeln, genauso wie Johnny.
»Wir müssen Mami holen, damit wir den Kuchen essen können.« Smudge zerrte an seiner Hand.
Sein Blick fiel auf den Kuchen, eine matschige braune Masse mit windschiefen Kerzen wie das Gebiss einer alten Frau.
»Wir essen ihn einfach jetzt gleich und bringen Mami ein Stück mit«, sagte er.
»Nein«, beharrte sie.
»Na gut«, stimmte er ein – der Wind hatte ihn milde gestimmt. Er zerzauste ihr das wirre Haar und lief zum Beiboot. »Ich gehe sie holen.« Inzwischen sollte sie ihren Rausch ausgeschlafen haben. Sie würden den Kuchen essen und danach aufbrechen und die ganze Nacht durchsegeln. Mit ein bisschen Glück hatten sie morgen früh vielleicht schon ein Dorf gefunden.
»Und bring gleich noch ein Messer mit«, rief Clem ihm hinterher.
Er zog das Boot ins Wasser, sprang hinein, stieß sich vom Ufer ab und ruderte los, begleitet von Smudges fröhlichem Kreischen und Quieken, als sie die Teller auf der Decke verteilte. Die Aussicht auf Wind hatte seine Lebensgeister geweckt. Nun, da er wusste, dass sie schon bald weitersegeln konnten und nicht mehr mit diesen schrecklichen Leuten zusammen sein mussten, konnte er sich mit allem arrangieren. Er schloss für einen Moment die Augen und genoss die warme Sonne auf seinen Lidern, während er sich ausmalte, wie die Brise bald über seine Haut streichen würde. Mit einem Mal konnte er auch seine Liebe wieder spüren. Bald wäre alles wieder wie vorher, ganz bestimmt. Sie konnten dafür sorgen, dass alles wieder gut wurde. Sie konnten all das vergessen, den Schaden, der angerichtet worden war, nun da sie endlich wieder Wind hatten.
Er genoss die langen, ausholenden Schläge der Ruder, das perfekte Zusammenspiel zwischen Ein- und Auftauchwinkel, um die maximale Geschwindigkeit aus dem kleinen Boot herauszuholen. Geschwindigkeit, das war es, was er brauchte. Schließlich erreichte er die Little Utopia und umrundete sie. Vom Heck aus war das leise Knistern der leeren Kassette im Rekorder zu hören. Er befestigte das Beiboot mit einem einhändigen Knoten und schwang sich über die Reling. Annie war nicht im Cockpit. Die Türen standen sperrangelweit offen. Er spähte in die Kajüte. Auch dort war nichts von ihr zu sehen. Die Badezimmertür war geschlossen. Bestimmt war sie auf dem Bett zusammengebrochen und schlief. Er stieß einen leisen Fluch aus. Er ging die Kombüsentreppe hinunter.
»Annie?«, rief er und drehte sich eine Zigarette. »Zeit für den Kuchen. Wind ist aufgekommen. Wir müssen bald los, deshalb essen wir ihn jetzt schon.«
Sie antwortete nicht. Also durchquerte er den Raum und klopfte an die Badezimmertür.
»Annie?«, rief er noch einmal und leckte die Gummierung des Zigarettenblättchens ab. »Wir wollen die Kerzen anzünden.«
Er drehte den Türknauf, der sich jedoch nicht bewegen
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