Die stillen Wasser des Todes - Roman
nachdenklich. »Aber dann hätte sie sich trotzdem noch freinehmen müssen, um Rebecca zu beobachten, um sich einen geeigneten Platz für den Hinterhalt auszusuchen – und sie musste überhaupt erst einmal die Zeit finden, was bei den Kindern sicher nicht so leicht ist. Aber sie ist früher auch gerudert, also hätte sie gewusst, wie sie das Boot zum Kentern bringen und Becca unter Wasser halten –«
»Ihre Kinder«, fiel Gemma ihr ins Wort, als die Erkenntnis sie traf. »Mein Gott. Melody, hast du in ihrer Personalakte auch etwas zum Alter ihrer Kinder gefunden?«
Stirnrunzelnd nahm Melody die Papiere aus ihrer Tasche. Offenbar waren sie doch nicht nur Staffage gewesen. Sie blätterte sie durch und hielt dann inne, einen Finger zwischen die Seiten gelegt. »Der ältere Junge heißt Landon und ist neun. Der jüngere, Logan, ist vier.«
»Vier?« Gemmas Magen sackte eine Etage tiefer. »Verdammt.« Sie sah ihre Partnerin an. »Vier, Melody. Er ist vier. Und wir sind komplette Idiotinnen.«
» O Gott.« Melodys Augen weiteten sich. »Der Kleine. Er ist Craigs Kind, nicht wahr? Wenn du vergewaltigt wirst, kannst du normalerweise kaum verhüten. Aber warum hat sie es nicht einfach abgetr…«
»Vielleicht kommt das für sie nicht in Frage. Oder sie wollte unbedingt ein zweites Kind und war sich nicht sicher, von wem es war –«
»Oder vielleicht wollte sie ihrem Mann nicht sagen, was passiert war – jedenfalls nicht die ganze Wahrheit«, warf Melody ein. »Vielleicht hat sie ihm nur die Version erzählt, die im Polizeibericht steht, und nicht zugegeben, dass sie mit Craig auf sein Zimmer gegangen ist. Selbst wenn sie dabei keine Hintergedanken hatte, ist das ein fragwürdiges Verhalten, besonders in den Augen eines eifersüchtigen Ehemanns.«
Gemma dachte wieder an die Fotos, an die besitzergreifende Art, in der Ross Abbott den Arm um die Schultern seiner Frau gelegt hatte. Sie schätzte ihn als einen Mann ein, der nur sehr ungern zugeben würde, dass sein kleiner Sohn das Kind eines anderen Mannes war, ungeachtet der Umstände, unter denen der Junge gezeugt worden war. Oder gerade wegen dieser Umstände.
»Was immer Ross Abbott vorher gewusst haben mag«, sagte sie, »nach Rebeccas Besuch am Samstag muss er die ganze Wahrheit gekannt haben. Und was immer Chris Abbott über Rebeccas Trainingsgewohnheiten wusste, sie wird es ihm erzählt –«
Eine Bewegung im Rückspiegel zog Gemmas Blick auf sich.
Chris Abbott war aus ihrem Haus gekommen und lief zur Straße, während sie in ihrer Handtasche kramte. An einem weißen Mercedes- SUV angelangt, zog sie einen Schlüssel aus der Tasche und riss die Wagentür auf. Erst als die Scheinwerfer von Abbotts Wagen aufleuchteten, wurde Gemma bewusst, wie dunkel es inzwischen war.
»Chefin?«, sagte Melody.
»Was hat sie vor?«, fragte Gemma. »Es muss etwas passiert sein.« Sie startete den Wagen und legte den Gang ein, während sie Abbott im Rückspiegel beobachtete.
»Chefin –«, setzte Melody wieder an, doch als Abbott mit quietschenden Reifen losfuhr und auf sie zugerast kam, setzte Gemma zurück, schlug das Lenkrad scharf ein und gab Gas. Der Escort schoss auf die Straße hinaus und verfehlte nur knapp den vor ihnen parkenden Lexus, ehe Gemma jäh abbremste und Abbott den Weg abschnitt.
Abbott brachte den Mercedes wenige Zentimeter vor dem Kotflügel des Escort zum Stehen. Sie sprang schon heraus, während ihr Wagen noch von der Vollbremsung schwankte.
»Haben Sie den Verstand verloren?«, schrie sie. »Fahren Sie Ihre Karre da weg, Sie verdammte –« Dann sah sie Gemma auf der Fahrerseite aussteigen und verstummte. »Sie –«, stieß sie hervor, doch ihre Stimme war nur ein Krächzen.
»Wohin wollen Sie, Mrs. Abbott?«, fragte Gemma. Sie trat neben Melody, die ebenfalls ausgestiegen war, hielt jedoch den Blick auf Abbott geheftet.
»Das geht Sie nichts an. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Fahren Sie Ihren Wagen da weg.« Abbott presste die Lippen zu einem dünnen weißen Strich zusammen.
»Ich fahre nirgendwohin. Und Sie auch nicht – da müssten Sie schon zurücksetzen, und ich glaube, das wird so bald nicht passieren.« Ein anderes Auto war hinter Abbott in die Straße eingebogen, und Gemma vermutete, dass jeden Moment ein erzürnter Autofahrer die Diskussion bereichern würde. »Ruf Verstärkung«, zischte sie Melody zu.
Abbott drehte sich um, sah das herannahende Auto und wandte sich wieder zu Gemma um. »Sie fahren jetzt Ihren
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