Die stillen Wasser des Todes - Roman
Schon stiegen erste feine Nebelschwaden vom Wasser auf. Am Abend strömte der Fluss einen ganz eigenartigen Geruch aus, feucht und lebendig und irgendwie urtümlich. Die blaugraue Fläche wirkte still wie ein Teich, aber Becca wusste, dass dies eine Illusion war. Hier, kurz vor dem tosenden Wehr unterhalb der Hambleden Mill, herrschte eine starke Strömung, die für unvorsichtige oder übermütige Ruderer zur tückischen Falle werden konnte.
Becca wandte sich flussaufwärts, in Richtung Henley, und verfiel in einen Trab, als sie sah, dass die Beleuchtung an der Henley Bridge bereits eingeschaltet war. Die Zeit lief ihr davon. »Mist«, stieß sie halblaut hervor und beschleunigte ihre Schritte.
Schwitzend erreichte sie das Gelände des Leander, des renommiertesten aller Ruderclubs, der sich auf der Remenham-Seite direkt an die Brücke anschloss. Im Speisesaal im Obergeschoss brannte schon Licht, doch der Bootsplatz lag verlassen im Halbdunkel, und die Türen der Halle waren geschlossen. Das Team absolvierte wohl gerade im Kraftraum unter den Augen der Trainer die letzte Übungseinheit des Tages, und das war Becca nur recht.
Sie öffnete das kleine Tor zum Bootsplatz, ging weiter zur Halle und schloss die Tür auf. Ihr Boot war zwar draußen aufgebockt, doch sie musste an ihre Skulls herankommen, die drinnen aufbewahrt wurden. Sie knipste das Licht an, und ihr Blick fiel auf die glänzenden gelben Empacher – die in Deutschland hergestellten Boote, die von den meisten Achtern benutzt wurden. Sie waren umgedreht übereinandergestapelt, lang, schlank und unglaublich grazil. Der Anblick gab ihr einen Stich ins Herz.
Aber das war nicht Beccas Welt. Teamrudern war noch nie ihre Stärke gewesen, auch nicht an der Universität, wo sie im Frauen-Achter gerudert war. Als hoch aufgeschossene Studienanfängerin war sie vom Ruderclub ihres College angeworben worden. Alle Clubs waren ständig auf der Jagd nach naiven Erstsemestern, aber ihr hatten sie ganz besonders hartnäckig zugesetzt. Sie hatten etwas in ihr gesehen, was über ihre große Statur und ihre langen Gliedmaßen hinausging – die offenkundigen Grundvoraussetzungen für einen Sportruderer. Vielleicht hatten sie damals schon die Besessenheit in ihren Augen aufblitzen sehen.
Heute würde kein Team mehr so verrückt sein, sie an Bord zu nehmen, ganz gleich, wie gut sie einmal gewesen war.
Aus dem angrenzenden Kraftraum kam das Stampfen von Gewichten, durchsetzt mit vereinzelten Gesprächsfetzen. Sie wollte mit niemandem reden – es würde ihr nur kostbare Zeit rauben. Rasch durchquerte sie die Halle und nahm ihre Skulls aus dem Ständer an der hinteren Wand. Die rechteckigen Blätter waren im traditionellen Leander-Pink gestrichen, die gleiche Farbe wie ihre Mütze.
»Becca.«
Erschrocken drehte sie sich um und stieß dabei mit den Skulls gegen den Ständer. »Milo – ich dachte, du wärst drin bei der Mannschaft.«
»Ich habe gesehen, wie in der Halle das Licht anging.« Milo Jachym war klein und fast kahl, bis auf ein paar ergraute Stoppeln über den Ohren. In seiner aktiven Zeit war er ein bekannter Steuermann gewesen, und er hatte früher auch Becca trainiert. »Du gehst aufs Wasser.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und der Ton, in dem er sie aussprach, passte zu seinem finsteren Blick. »Du kannst das nicht weiter durchziehen, jetzt, nachdem die Uhren umgestellt sind. Alle anderen sind schon seit einer Stunde drin.«
»Ich mag es, wenn ich das Wasser für mich habe.« Sie lächelte ihn an. »Mach dir keine Sorgen um mich, Milo. Hilf mir lieber, das Boot runterzuheben, ja?«
Er folgte ihr nach draußen und nahm dabei zwei stoffbespannte Klappständer mit, die gleich neben der Hallentür lehnten. Becca trug ihre Skulls durch das Tor und legte sie vorsichtig neben dem Steg ab. Dann ging sie zurück zum Bootsplatz, wo Milo die Klappständer neben einem der freistehenden Bootslager aufgestellt hatte.
Ihr weiß-blaues Filippi lag auf zwei Doppelzweiern, und Milo musste sich gewaltig strecken, um es loszuschnallen und den Bug zu greifen, während sie am Heck anpackte.
Zusammen hoben sie das Rennruderboot heraus, drehten es mit der Wasserseite nach unten und setzten es auf den vorbereiteten Klappständern ab. Während Becca die Einstellung überprüfte, sagte sie: »Du hast es Freddie erzählt.«
Milo zuckte mit den Achseln. »Ist es denn ein Staatsgeheimnis, dass du ruderst?«
»Wie ich sehe, hast du deine sarkastische Ader nicht
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