Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
wird – ehem – ihn für dich verdichten, ihn manifest machen, so daß du klar erkennen kannst, wovon du träumen wolltest.«
    »O Bruder Malachi, ich weiß, Ihr seid überaus klug – aber Traumkristalle? Das ist doch wie jenes Stückchen vom Wahren Kreuz, das Ihr aus Bauholz angefertigt und diesem Idioten in Fly angedreht habt.«
    »Ganz und gar nicht, Margaret. Dieses eine Mal solltest du mir ein wenig Glauben schenken, ja?« So schwatzte er auf mich ein und hielt mir den Kristall in der offenen Hand hin. Der sah wirklich hübsch aus und verlockte zum Anfassen.
    »Leg ihn nur heute abend unter dein Kopfkissen. Dann schläfst du wie ein Wiegenkind und erinnerst dich morgens an deinen Traum.«
    »Danke, Versuch macht klug. Nett von Euch, daß Ihr Euch um mich sorgt.« Schaden konnte er wohl kaum?
    In jener Nacht schlief ich unruhig. Ich wachte mehrfach auf, und mein Bett war feucht von Schweiß. Der Traum kehrte zurück, zwei-, dreimal, und jedes Mal, wenn ich das Kind gerettet hatte, wachte ich auf. Dann aber schlief ich tief, ganz tief. Als ich morgens wieder durchkam, sah ich den Traum erneut vor mir. Nur als ich dieses Mal den Kopf des Kindes herauszog, blickte ich dabei auf meine Hände, die das kostbare Wesen hielten. Meine Finger waren aus Stahl.
    »Stahlfinger!« rief ich aus und setzte mich auf. »Ich habe von Stahlfingern geträumt!«
    »Ach, sei still, Margaret.« Sim drehte sich um. Peter machte im Schlaf Ferkelgeräusche. Der Hund kam hoch und trapste mit den Pfoten laut über den Holzfußboden.
    »Ruhe da draußen!« rief die schläfrige Stimme Bruder Malachis aus dem vorderen Schlafzimmer.
    Und so saß ich denn stumm da und wiegte mich in Träumen von Stahlfingern. Es mußte etwas sein wie – etwas wie die Zangen, mit denen man Heißes aus dem Topf holt, aber mit rundgebogenen Stahlfingern am Ende, dann könnte ich den Kopf wie in meinem Traum herausziehen. Nein, keine Finger – die könnten sich hineinbohren. Könnten ein Loch machen. Der Kopf eines Säuglings ist weich. Hmm. Oder vielleicht tat es ein Rand um die Finger herum?
    Später frühstückten wir zusammen. Bruder Malachi spülte das altbackene Brot mit einem riesigen Krug Bier hinunter, als er jäh innehielt und mich anblickte. Sein Stoppelgesicht zuckte unwirsch.
    »Jetzt entsinne ich mich. Ja, mir fällt alles wieder ein. Irgendein Trottel hat mich zu nachtschlafender Zeit mit seinem Geschrei aufgeweckt. Könnte es sich dabei um dich gehandelt haben, Margaret?«
    »Das kann nicht sein, Malachi«, legte Mutter Hilde ein gutes Wort für mich ein. »Ich habe geschlafen wie ein satter Säugling – ich habe auch nicht das mindeste Geschrei gehört.«
    »Du ganz gewiß nicht. Ich, ich bin in diesem Hause die empfindsame Seele. Und ich bin erschöpft. Gestern abend war ich dem Geheimnis äußerst nahegekommen, wenn ich nicht darüber eingeschlafen wäre. Nur ein, zwei Stündchen, dachte ich, auch mein armes, ermattetes Hirn bedarf der Ruhe, und dann ist das Geheimnis endlich mein. Aber nein, Fortuna wollte es anders. Meine Sterne, meine grausamen Sterne haben mich verraten! Meine erbärmliche kleine Ruhestunde wurde von rauhem Gelärme unterbrochen.«
    »Es tut mir wirklich leid, Bruder Malachi, aber daran war doch nur der Traumkristall schuld«, entschuldigte ich mich.
    »Ach ja, der Traumkristall«, sagte er und tat erschöpft. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Etwas für blöde, liebeskranke Frauen. Nichts für einen wahren Sucher.«
    »Aber Ihr selbst habt ihn mir doch gegeben.«
    »Nur um dich zu besänftigen und um mein empfindsames Gewissen zu beruhigen. Habe ich dir schon erzählt, daß das Hirn einer zarten Pflanze gleicht? In einer rauhen, lärmenden Umgebung nimmt es leicht Schaden.«
    »Aber wollt Ihr denn nicht hören, was ich geträumt habe?«
    »Daran geht wohl kein Weg vorbei, aber nur damit du nachher Ruhe gibst.«
    »Ich habe von etwas wie einer Küchenzange geträumt, aber mit langen Stahlfingern auf jeder Seite – gerundet, etwa so.« Und ich hielt meine Hände hoch, um es ihm anschaulich zu machen.
    »Dann hast also doch du mich aufgeweckt. Und das für sowas? Träume lieber von einem Liebsten wie die anderen.«
    »Nein, einen Augenblick, Malachi. Wofür war das Ding gut, Margaret?« unterbrach ihn Mutter Hilde.
    »Du weißt doch, wenn der Kopf des Kindes festsitzt und die Wehen ihn nicht austreiben können. Die Stahlfinger könnte man hineinschieben, den Kopf damit umfassen und ihn dann herausziehen. Genau wie

Weitere Kostenlose Bücher