Die Stimme
Die Jungfrau Maria hat ihr schon die Tränen getrocknet – und du mußt deine auch trocknen.« Sie wischte ihm die Augen mit dem Saum ihres Ärmels, und er machte einen Laut, als wollte er ersticken.
»Und husten tust du auch? Ich habe nämlich eine gute Arznei gegen Husten. Die wirst du mögen – sie schmeckt gar nicht scheußlich. Ich mache sie aus Minze und Honig. Das forme ich zu kleinen Kügelchen. Komm mal mit.« Er folgte ihr stumm. Ich wußte, jetzt nahm sie einen Krug vom Regal mit ihren Arzneien und konnte hören, wie sie ihm die Süßigkeiten in die Hand zählte, dann schloß sie seine Finger darüber. Stumm folgte er ihr zurück ins Vorderzimmer, wobei er sorgsam die Hand geschlossen hielt, so als hütete er etwas sehr Ungewöhnliches.
»Und jetzt möchte ich dich um einen Gefallen bitten. Wir haben hier alle viel zu tun. Sim treibt sich draußen herum und spielt, und Peter ist zu einfältig, als daß man ihn mit etwas Wichtigem betrauen könnte. Ich möchte, daß du Margaret zu der netten, kleinen Garküche in Cheapside begleitest – die, welche abends noch lange aufhat –, Margaret, du holst uns Fleischkuchen und was du sonst noch an Gutem hierfür bekommst – und dann bleibst du zum Abendessen. Möchtest du? Und wenn du husten mußt, nimmst du deine Medizin.«
»Das ist aber eine nette, alte Lady, was?« fragte er, als wir durch die gewundenen Gassen zur Garküche gingen.
»Sehr nett. Sie hat mir nämlich das Leben gerettet.«
»Beim Kinderkriegen?«
»Nein, bei der Pest.«
Er schauderte. »Die überlebt keiner.«
»Nicht viele, aber ich schon. Sie ist sehr klug.«
»Dann ist es ja kein Wunder, daß Ihr bei ihr Lehrling sein wollt. Eines Tages seid Ihr dann auch weise.«
»Vermutlich. Aber das dauert lange. Länger als ich gedacht habe.« Der Schlachtersjunge steckte sich eine von Mutter Hildes Süßigkeiten in den Mund und dachte ein Weilchen darüber nach.
Die Garküchen Londons haben mir immer gefallen. Derlei gibt es auf dem Lande nun wirklich nicht. Was für ein Festtag, wenn man mit Geld in der Tasche heimkommt und eine fertige Mahlzeit einkaufen kann. Und wer unvermutet Gäste hat, kann dort eilends und kurzfristig etwas Köstliches erstehen. Auf der Thames Street gibt es einige teure Garküchen, welche den ganzen Tag und auch die ganze Nacht über geöffnet sind, damit es ihre Kunden auch bequem haben. Und wer nur ein kleines Zimmer hat und nicht recht kochen kann, muß trotzdem nicht auf gutes Essen verzichten. Es gibt sogar Leute, die wohnen einfach in Schenken und Garküchen, wenn es ihnen zuhause nicht mehr gefällt. Das Leben in der Stadt ist eben ganz anders.
Die Garküche, zu der wir gingen, wurde seit kurzem von Mutter Hilde bevorzugt. Sie hatte nämlich die Frau des Besitzers von einem Kind entbunden, und deswegen bekam sie dort alles ein wenig preiswerter. Wir stießen die schwere Eingangstür auf; die Luft drinnen war warm und stickig, es roch nach Zwiebeln, Gewürzen und bratendem Fleisch. Die Herdfeuer spendeten mehr Licht als die Unschlittkerzen an den rauchgeschwärzten Wänden. Auf langen Spießen sah man Reihen von Bratenstücken und Geflügel brutzeln. Über einem großen Feuer wurde bedächtig sogar eine ganze Hammelhälfte gedreht. Ein Schweinekopf mit eingesunkenen Augen briet vor sich hin. Irgendwie mochte ich die Augen nicht. Auch der Hammel hatte noch ein Auge. Ein grausiges Auge, wie das Auge der Toten, das sich heute morgen zu mir gedreht hatte. Ein widerliches, gekochtes Auge. Auf einmal war mir klar, daß ich nichts von dem gebratenen Fleisch dort würde essen können. Ich hatte das Gefühl, als ob all diese Augen – Gänse-, Schweine-, Kapaunen-, Schwanen- und Hammelaugen – mich anblickten und sich rachsüchtig zu mir drehten. Mutter Hildes Freundin kam zu uns und begrüßte uns, eine gestandene, rotgesichtige Frau mit Kopftuch und großer, fettbespritzter Schürze. Sie zeigte uns den allerbesten ihrer Fleischkuchen, und den erstand ich dann, doch mir wollte sich dabei der Magen umdrehen. Darum kaufte ich auch noch einen grünen, frischen Käse und ein paar andere gute, fleischlose Dinge ein. Ich merkte, wie sich die Stimmung meines kleinen Begleiters hob. Das ist gut, dachte ich, wenn er erst einmal gegessen hat, geht es ihm noch besser.
Doch daheim saß ich niedergeschlagen vor meinem Abendessen. Jubelnd war der Fleischkuchen in Stücke geschnitten worden, und Bruder Malachi brachte eine Art blumiges Tischgebet zuwege, das seiner Meinung nach
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