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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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der Größe des Ereignisses entsprach. Jeder außer mir griff freudig zu, doch ich brachte einfach nichts herunter.
    »Was fehlt dir, liebes Kind, warum nimmst du nicht an diesem herrlichen Festschmaus teil?« fragte Bruder Malachi mit vollem Mund.
    »Ich kann einfach nicht – ich bekomme Magenschmerzen davon.«
    »Na, mach schon, liebe Margaret, du mußt essen und fröhlich sein, denn wer weiß, was morgen ist.« Mutter Hilde legte mir die Hand auf die Schulter.
    »Ich bin doch fröhlich, es ist bloß – bloß –«
    »Bloß was, mein Kind?«
    »Ich kann nichts mit Augen essen!« jammerte ich.
    »Aber Pastete hat doch keine Augen«, argumentierte Bruder Malachi, und das durchaus vernünftig.
    »Aber sie hatte doch mal Augen!« protestierte ich verstört.
    »Sie meint, das Schaf hatte welche, ehe man daraus Pastete gemacht hat, lieber Malachi.«
    Peter gab die Grunzlaute von sich, die er gewöhnlich beim Essen macht.
    »Käse hat keine Augen, Margaret. Versuche es mal damit«, drängte Mutter Hilde. Ich probierte ein kleines Stückchen. Es ging. Ich langte noch einmal zu.
    »Hurra!« rief Bruder Malachi.
    »Wenn Ihr Euer Stück Pastete nicht wollt, kann ich es dann haben?« Der Schlachtersjunge erholte sich zusehends.
    »Frag erst mal, ob Bruder Malachi es nicht will – vielleicht mußt du teilen«, antwortete ich.
    »Durch drei, Margaret«, setzte Sim hinzu.
    Und so teilte ich denn durch drei, doch seit dieser Zeit habe ich mir zur Gewohnheit gemacht, nichts zu essen, was Augen hat. Ich weiß nicht einmal richtig warum. Mir tut davon einfach der Magen weh. Komisch, manchmal falle ich auf ein reich verziertes Gericht herein, aber immer habe ich hinterher Magenschmerzen. Und wer ißt schon freiwillig etwas, wovon ihm der Magen wehtut? Es scheint mir auch nicht zu schaden, obwohl viele sagen, ich würde dahinsiechen und sterben. Das größte Problem sind allerdings Menschen, die glauben, daß ich besonders heilig sein will und eine große Heuchlerin bin, weil bei mir das ganze Jahr über Fastenzeit ist. Aber in Wirklichkeit ist es viel einfacher. Ich halte bloß nichts von Schmerzen.
    Wir schickten Sim mit dem Schlachtersjungen zurück, und Sim mußte den ganzen Rückweg rennen, damit er vor dem Abendläuten daheim war. Aber in dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Es ging beim besten Willen nicht. Immer wieder sah ich vor mir diesen großen Kopf, der geboren werden wollte, und stellte mir vor, man könnte ihn herausziehen. So ging es auch die nächste Nacht, nur daß mir jetzt träumte, meine Finger wären sehr lang, lang und dünn und stark. Zusammen mit einer kräftigen Wehe schob ich sie in den Schoß und zog den Kopf heraus. Im Traum blieb das Kind in jener Nacht am Leben.
    Am nächsten Morgen war ich sehr angeschlagen. Bruder Malachi war so taktlos, es nicht zu übersehen, als wir uns die Reste des kalten Essens vom letzten Abend zum Frühstück teilten.
    »Margaret, lüg mich nicht an! Ich besitze das Allsehende Auge! Ich weiß, daß du nicht schläfst.«
    »O, Bruder Malachi, braucht man denn das Allsehende Auge, um die dunklen Ringe unter meinen Augen zu bemerken?«
    »Was hält dich wach? Wieder einmal Geister? Etwas Scheußliches, das unter dem Haus begraben liegt und stöhnt, man möge es ausgraben? Ich segne solange herum, bis es dich nicht mehr belästigt.«
    »Das nun auch wieder nicht. Es ist nur ein Traum. Ein Traum, der mich beunruhigt. Ich muß etwas herausfinden, aber es entzieht sich mir immer noch.«
    »Nur mit der Ruhe – das ist ganz und gar kein Problem. Dafür habe ich genau das Richtige.«
    »Wieder so Heiligenknöchelchen?«
    »Du hartherziges Kind, du – nein. Etwas viel Wirksameres.« Er kramte in seinem Beutel, den er immer an seinem alten Ledergürtel trug und brummelte beim Suchen vor sich hin.
    »Er muß doch da sein – irgendwo – aha!« Und damit hielt er einen seltsamen achteckigen Stein zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Er war hellblau und durchsichtig, aber er glänzte nicht.
    »Was ist das, und wie habt Ihr das gemacht?« fragte ich.
    »Den habe nicht ich gemacht – man trifft ihn so in der Natur an.«
    »Und das ist –« bohrte ich weiter.
    »Ein Traumkristall, Margaret. Der letzte, der noch übrig ist. Die anderen habe ich an hochgeborene Damen verkauft, damit sie vom Antlitz ihres Liebsten träumen können.«
    »Ich brauche keinen Liebsten, Bruder Malachi.«
    »Das, meine liebe Margaret, versteht sich doch. Aber du brauchst deinen Traum. Dieser herrliche Stein

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