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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Menschenfrau hätte diesen Kopf gebären können. Stumm schnitt ich die Nabelschnur durch und windelte das Kind; dann legte ich es der Toten in den Arm, wobei ich die Augen von ihrem so furchtbar zugerichteten Leib abwandte. Der Priester blieb vermutlich noch wegen seines Honorars. Außerdem mußte man alles für ein Doppelbegräbnis richten. Ich ging still, ohne ein Wort. Der Lehrling folgte mir, und sein Gesicht war ein Bild des Jammers.
    »Sie war so gut zu mir«, sagte er. »Habt Ihr gewußt, daß sie gut zu mir war?«
    »Könntest du mir den Weg nach Hause zeigen?« bat ich. »Ich glaube nicht, daß ich mich noch an alle Abzweigungen erinnere.« Stumm ergriff er meine Hand und brachte mich nach Haus.
    Bei unserer Heimkehr war es schon später Nachmittag. Die Flickarbeit für Bruder Malachi lag noch genau dort, wo ich sie liegengelassen hatte, doch im Stinkezimmer konnte ich zwei Leute jubeln hören.
    »Margaret, bist du das? Bist du endlich fertig? Wir müssen alle zu Abend essen.« Bruder Malachis Stimme klang aufgekratzt.
    »Ich bin wirklich fertig«, antwortete ich. Mein niedergeschlagener Ton entging ihm nicht, und so fragte er:
    »Es ist nicht gut gegangen, wie? Na, mach mach dir keine Sorgen, wir sind alle reich, und heute abend wollen wir so richtig schmausen.«
    »Dann habt Ihr vermutlich endlich das Geheimnis entdeckt?«
    »Nein, nein, nicht ganz so gut.« Mutter Hilde kam geschäftig ins Zimmer geeilt. »Die Frau, die ich entbunden habe, hatte Zwillinge! Einen Jungen und ein Mädchen, beide mit schwarzem Haar. Wie die gebrüllt haben! Vor Freude hat der Mann nur so getanzt! ›Zwillinge!‹ hat er geschrien, ›Ihr bekommt eine Draufgabe!‹ ›Aber denkt dran‹, sagte ich, ›besorgt Eurer Frau eine Amme, falls sie nicht genug Milch hat, denn Ihr habt da ein paar fette, robuste Kinder, die eine Menge Nahrung brauchen werden!‹ Und so habe ich ein doppeltes Honorar und noch etwas mehr bekommen, weil ich die ganze Nacht bei ihr gewacht habe. Und außerdem hat er mit Geld bezahlt! Nicht etwa mit Gemüse, Margaret; nicht mit alten Kleidern! Also, wenn es uns in London nicht gut geht!«
    Ich machte immer noch ein betrübtes Gesicht. Auf einmal sah mich Hilde aufmerksam und besorgt an.
    »Ei, Margaret, was ist denn los? Du wirkst so bedrückt. Und auf deinem Kleid ist Blut. Wer ist dieser kleine Junge? Er ist auch so bedrückt. Was ist passiert?«
    »Das ist Richard, der Schlachterlehrling, der mich nach Haus gebracht hat. O, Mutter Hilde, die Schlachtersfrau ist gestorben. Der Kopf, der Kopf des Kindes war zu groß.«
    »Aber das Blut, mein Mädchen. Da ist doch noch mehr passiert.«
    »Ja, stimmt. Er hat ihr den Bauch aufgeschnitten, um das Kind zu retten. Wie bei Julius Caesar, hat er gesagt.«
    »Hmm, interessant. Hat das Kind gelebt?«
    »Nein, Mutter Hilde. Ich glaube, es war schon vorher tot, aber der Priester nicht, der hat es getauft.«
    »Ja, so geht es, so geht es. Aber gar keine so schlechte Idee, wenn es geklappt hätte.«
    Ich war entsetzt. Der Junge fing schon wieder an zu weinen. Mutter Hilde sah ihn an und legte dabei den Kopf schief wie ein neugieriges Eichhörnchen. In ihren Augen unter dem weißen Kopftuch schimmerte etwas. Dann griff sie auf einmal nach ihm, nahm ihn in die Arme und barg seinen Kopf an ihrer üppigen, in graues Tuch gekleideten Brust.
    »Mein Kleiner, wenn Soldaten in den Krieg ziehen, dann setzen sie doch ihr Leben aufs Spiel?«
    »J-ja«, schluchzte er.
    »Und für was kämpfen und setzen sie ihr Leben aufs Spiel?« fragte sie sanft.
    »F-für Gott, f-für König und Vaterland.«
    »Weißt du eigentlich, daß wir Frauen auch Soldaten sind?« Er sah sie verwundert an. »Auch wir setzen unser Leben aufs Spiel«, fuhr Mutter Hilde fort. »Und das jeden Tag. Nur daß wir für Gott, für das Leben und die menschliche Rasse kämpfen. Und das ist doch wichtig, oder?«
    Der Kleine blickte sie an. Was für ein merkwürdiger Gedanke!
    »Wir Wehmütter sind wie Generäle. Wir sind ständig im Feld. Hier –« sie klopfte auf meinen Korb, »sind unsere Wurfmaschinen und die Belagerungswerkzeuge. Die Frauen sind die Ritter: sie kämpfen wie die Wilden, um Leben zu schenken, und zuweilen sterben sie auf dem Schlachtfeld. Leuchtet dir das ein? Der Kampf ums Leben ist edler als der Kampf um den Tod, und deine gute Herrin ißt heute im Himmel zu Abend. Dort wird sie höher geehrt als jene, die im Leben Tod ausgeteilt haben. Die Engel singen für sie. Der süße Jesus begrüßt sie.

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