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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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hinabkletterten.
    Sie gingen durch die vereisten Straßen und suchten sich einen Weg um matschige Schneehügel herum, die mancherorts die ganze Straße versperrten, bis hin zu einer Gasse, über die Gregory schon viel geschrieben, die er jedoch noch nie gesehen hatte. Als er sich duckte, um durch die niedrige Tür des Hauses einzutreten, da stieg ihm ein vertrauter Geruch in die Nase – der Geruch aus einem alchimistischen Laboratorium.
    »Schon daheim?« rief eine Stimme aus dem Hinterzimmer, und die gedrungene, etwas behäbige Gestalt Bruder Malachis tauchte im niedrigen Türrahmen am entgegengesetzten Ende des großen Zimmers auf. »Ich finde allmählich, ein bißchen Frühstück würde uns guttun – oh! Du lieber Gott, was tust denn du hier, Gilbert?«
    »Das Gleiche könnte ich auch dich fragen, Theophilus von Rotterdam«, sagte Bruder Gregory gelassen.
    »Ich wurstele mich, wurstele mich so durch. Was führt dich hierher?«
    »Eigentlich wollte ich Geld borgen, damit ich ein Pferd mieten kann«, erwiderte Bruder Gregory.
    »Von Frauen borgen? Tief bist du gesunken, Gilbert. Übrigens, schreibst du noch? Oder lehrst du wieder?«
    »Ich widme mich dieser Tage der Kontemplation«, sagte Bruder Gregory von oben herab.
    »Immer noch der alte Snob, was?« bemerkte Bruder Malachi heiter. »Aber mir macht das nichts – wir hatten eine schöne Zeit zusammen, zumindest bis ich in Verruf kam und die Stadt verlassen mußte. Wie ich hörte, haben sie deine Bücherverbrennung ganz groß aufgezogen – überall Blut auf dem Gehsteig und Tausende von jubelnden Menschen und dergleichen mehr. Also, ich trete da lieber einen heilsamen Urlaub an, solange ich noch in der Lage bin, ihn zu genießen. Deine Schuld, Gilbert, daß du dableiben und dich verteidigen mußtest. Aber du hast ja stets einen guten Rat in den Wind geschlagen.« Bruder Gregorys Brauen zogen sich in der Mitte zusammen, und er machte ein Gesicht wie eine Gewitterwolke.
    »Bruder Gregory hat dringende Geschäfte anderswo, lieber Malachi, wir dürfen ihn nicht aufhalten.« Mutter Hilde behielt in kritischen Lagen immer einen klaren Kopf und das Wesentliche im Auge.
    »Haust du ab? Ist jemand hinter dir her? Genau wie damals in Paris. Leichter Fuß und leichter Sinn, wie ich immer sage – halte nie zu sehr fest und dich nicht zu lange auf.«
    Bruder Gregory lächelte. Theophilus war schon immer ein ulkiger Kerl gewesen. Dazumal hatte beispielsweise er dieses Spottliedchen auf den Rektor geschrieben. Man konnte ihm einfach nicht lange böse sein.
    »Hast du schon den Stein der Weisen gefunden?« fragte er.
    »Ich stehe ganz, ganz dicht davor«, vertraute ihm Bruder Malachi an, »aber andere Geschäfte haben mich davon abgehalten.«
    »Als da sind gefälschte Ablaßbriefe, Pestarzneien und dergleichen mehr. Wieso bin ich nicht schon lange darauf gekommen, daß du's bist? Es gibt keinen anderen derart gelehrten Schurken oder schurkischen Gelehrten.«
    »Hübsch ausgewogen, Gilbert. Talent hast du immer noch. Doch mir scheint, du bist jetzt Bruder Gregory. Das gehört wohl zur Kontemplation und der komischen Ausstaffierung. Bist du schon lange dabei?«
    »Lange genug.« Bruder Gregory preßte den Mund zu einer Linie zusammen.
    »Und bereits eine Offenbarung gehabt?«
    »Augenblicklich befinde ich mich in einer so sublimen Geistesverfassung, wie sie sich gar nicht beschreiben läßt«, antwortete Bruder Gregory gereizt.
    »Hmpf. Da ist mir aber anderes zu Ohren gekommen. Bei Margaret hast du herumgehangen. Vermutlich mit ihr geschlafen. Sie ist wirklich ein hübsches Mädchen, und ihr Mann war alt – eine Vernunftehe wohl. Hat sie aus einem schlimmen Schlamassel herausgeholt.«
    »Ich habe nicht mit Margaret geschlafen«, sagte Bruder Gregory empört.
    »Aber was hast du denn dort die ganze Zeit getrieben?«
    »Wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe ihre Erlebnisse nach Diktat niedergeschrieben«, sagte Bruder Gregory mit einem prüde mißbilligenden Blick. Er mochte keine vulgären Menschen, und inzwischen war ihm wieder eingefallen, daß Theophilus ihn auch schon früher damit gereizt hatte.
    »Du hast was?« Bruder Malachi brüllte vor Lachen und schlug sich auf die Schenkel. Er wiegte sich vor und zurück und lief vor Lachen rot im Gesicht an. »Gilbert, ich habe dich schon immer für unmöglich gehalten, aber diese Ausrede verfängt bei mir einfach nicht! Frauen schreiben keine Erinnerungen – o, schon gut, laß es dabei.« Er hatte mitbekommen, wie

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