Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
Vom Netzwerk:
denn jeder hat etwas zu verbergen. Und komm mir nicht wieder mit Vergebung. Ich bin nicht diejenige, die vergeben könnte, sondern mein Vater und mein Bruder. Und mein Geliebter. Ja, mein Geliebter, Onkel, was ist schon dabei. Du wirst nie verstehen, was es heißt, jemanden bis zum Wahnsinn zu lieben. Du wirst nie verstehen, daß ich auch nach all den Jahren noch jede Nacht an Oriol denke, trotz allem, was passiert ist und von dem du keine Ahnung hast. Der Kummer zermürbt mich. Jede Nacht denke ich an ihn, Onkel. Du weißt nicht, was Leidenschaft ist und wozu wir aus Leidenschaft fähig sind. Ich bin reich, weil ich für kurze Zeit in Oriols Armen liegen durfte: Es hat sich gelohnt, diese wenigen heimlichen Augenblicke waren mein Himmel. Alle anderen Entscheidungen, die mich von Tag zu Tag reicher machen, sind nicht von Bedeutung, Onkel. Doch die Erinnerung an Oriol zu bewahren, zu erreichen, daß er für immer geehrt wird, das ist wichtig. Und das werde ich durchsetzen, gegen wen auch immer. Sogar gegen Gott, möge er mir vergeben. Und ich schwöre, daß ich diese Kette mit dem Kreuz nie mehr ablegen werde, Onkel August, bis zu meinem Tod.
    »Senyora Vilabrú.«
    »Ja?«
    »Hochwürden August ist tot.«
    Hochwürden Augusts Blick war unverändert: Haßerfüllt starrten die halbgeöffneten Augen sie an, beschuldigten sie aller Übel.Wie ungerecht du bist, Onkel August.
    »Könnten Sie ihm bitte die Augen schließen?«

    Er liebte das Wort Gottes. Er liebte die Wissenschaft. Er beweinte den Tod eines Bruders und eines Neffen, heimtückisch ermordet von Anarchisten aus Tremp, und hegte sündige Rachegedanken. Er lebte im Exil in Rom und lernte dort Massimo Vivaldi kennen, der ihn ermutigte, sein Buch Über einen Raum ganzer Funktionen endlicher Ordnung zu schreiben. Er hegte ernsthafte Zweifel an dem Versuch von Whitehead und Russell, die Arithmetik auf der Axiomatik der Mengentheorie aufzubauen. Aber nachdem er ihr Buch Principia Mathematica gelesen hatte, wurde er zu einem ihrer treuesten Anhänger. Er wurde zweimal hintereinander für die Fields- Medaille nominiert, obwohl er sich nach seiner Rückkehr aus Rom nicht mehr aus La Seu fortrührte, wo er einen ruhigen Posten innehatte, der es ihm erlaubte, den ganzen Tagüber die Funktionen reeller Variabler nachzudenken. Aber er war schwach seiner Nichte gegenüber, die seines Erachtens ein eiskalter Racheengel war und es vermocht hatte, ihn in ein Gewirr unlösbarer Entscheidungen zu verstricken.All das lag in dem Bindestrich, den Jaume Serrallac zwischen 1878 und 1971 eingravierte, ohne diese Dinge zu wissen. »Du hast geschicktere Hände als ich«, hatte sein Vater anerkennend gesagt. Seit er sich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte, saß Pere der Steinmetz den ganzen Tag in der Werkstatt, die nun seinem Sohn gehörte, las Auszüge aus den Gedanken Bakunins, die für ihn inzwischen weniger eine Doktrin waren als vielmehr eine Erinnerung an die Zeiten, als er noch Ideale hatte, strich mit der flachen Hand über die Marmorblöcke und murmelte: »Die Steine sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
    Dies war sicherlich der nobelste Grabstein, den er jemals
anfertigen würde, denn hier in den Bergen hatten die Leute
normalerweise nicht eine solche Geschichte aufzuweisen.
Außerdem hatte die Familie nicht mit Geld gegeizt, nur mit
der Zeit. Jaume Serrallac mußte den ganzen Nachmittag und
den ganzen Abend in der Werkstatt verbringen, um diese
Zusammenfassung eines Lebens und eines Traums in Perpetua
Titling MT einzumeißeln, und als er damit fertig war,
malte er die Inschrift schwarz aus, damit sie sich besser vom
eleganten Grau des Steins abhob. Ein Kunstwerk. Der arme
Priester, er war schon lange nur noch Haut und Knochen
gewesen. Und er dachte unablässig, nie hätte ich gedacht, daß
Senyora Elisenda … Natürlich ist sie eine schöne, elegante
Frau, aber … Das ist schon ein dickes Ding. Senyora Elisenda
hingegen spazierte unruhig und allein, ohne Carmina, im
Innengarten von Casa Gravat auf und ab und ging erst sehr
spät zu Bett, als Kassiopeia ihre Bahn fast beendet hatte und
Andromeda schon über Torena hinweggezogen war. Nicht
einen Augenblick lang hatte sie zu den Sternen aufgeblickt,
zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf, beunruhigten
sie, und sie hatte so viel Wichtiges zu erledigen, wie zumBeispiel die zerrissenen Briefe ihres Onkels in der Toilette
hinunterzuspülen oder den Gedanken an den Blick des Sterbenden
zu verdrängen, der schlimmer

Weitere Kostenlose Bücher