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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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einen Augenblick allein, wenn Sie bitte meinen Schmerz respektieren würden …«
    Der Mann verstand nicht recht, beeilte sich aber, die Tür hinter sich zu schließen. Senyora Elisenda sah sich prüfend um: Das Bett war ungemacht, Onkel Augusts Stock lehnte nutzlos an der Wand, auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch mit mathematischen Spielereien, ein gespitzter Bleistift war als Lesezeichen zwischen die Lösungsseiten gelegt. In der ersten Schublade fand sie, was sie gesucht hatte: einen halbfertigen Brief an den Bischof von La Seu und denneuen Postulator für die Seligsprechung des ehrwürdigen Oriol Fontelles Grau, gestorben für seinen Glauben, in dem Hochwürden August in zittriger, aber gut leserlicher Schrift schrieb: »Ich befinde mich in dem schrecklichen Zwiespalt, zwischen zwei Übeln wählen zu müssen, und mein Gewissen erträgt diese Last nicht. Was auch immer ich tue, ich werde verdammt sein. Schweige ich, so mache ich mich des Betrugs mitschuldig; spreche ich, so verletze ich das Beichtgeheimnis. Diese Situation geht über meine Kräfte, und so will ich Sie auf Rat meines Beichtvaters warnen, lieber Monsignore, daß ich guten Grund zu der Annahme habe, daß der Prozeß der Seligsprechung des ehrwürdigen Oriol Fontelles Grau nicht fortgesetzt werden sollte.« Punkt. Ein halbfertiger Brief, noch ohne Gruß- und Abschiedsformel, aber schon mit den Namen der Adressaten versehen. Ein Entwurf voller Zweifel.
    Als Hochwürden Llavaria nach einer Viertelstunde zaghaft an die Tür klopfte, sagte sie mit gebrochener Stimme: »Herein.« Sie saß da und trocknete sich die Augen. Den Priester dauerte ihr Schmerz, und so sagte er nichts.
    »Wären Sie so freundlich, mir zu sagen, wie ich zum Krankenhaus komme?«
    Auf der Straße erklärte Hochwürden Llavaria Senyora Elisenda den Weg, und als sie schon im Wagen saß, streckte sie noch einmal den Kopf heraus und fragte: »Hochwürden, wissen Sie, wer der Beichtvater meines Onkels ist?«
    »Der Beichtvater?«
    Sie wartete auf seine Antwort, bevor sie den Motor anließ.
    »Warum wollen Sie das wissen?«
    »Um ihm für alles zu danken, was er für meinen Onkel getan hat.«
    »Ich bin sein Beichtvater.«
    »Vielen Dank, Hochwürden. Ich werde Sie in ein paar Tagen besuchen, um Ihnen meine Dankbarkeit zu bezeigen.«
    Sie startete den Wagen und ließ den Leiter des Altersheimsnoch beunruhigter zurück, als er bei ihrer Ankunft gewesen war.
    Am schlimmsten war sein Blick. Er war schlimmer als sein Röcheln, als das leichte Zittern seiner Schulter, als das Vorgefühl nahen Todes, das im Raum hing. Sein starrer, haßerfüllter Blick aus halbgeschlossenen Augen.
    »Er erkennt niemanden«, versicherte ihr der Arzt. »Wir können nichts mehr für ihn tun.«
    Und ob er mich erkennt. Er sieht mich an und schickt mich zur Hölle, und das jagt mir Angst ein. Aber laß dir gesagt sein, daß das Ganze einem guten Zweck dient und daß du mir nicht zu sagen hast, was ich tun soll. Ich habe beschlossen, aller Welt zu verkünden, daß Oriol ein Märtyrer war, und sein Andenken zu ehren.Warst du nicht anfangs davon begeistert, und Hochwürden Bagà auch? Jetzt kann ich nicht mehr zurück, um nichts in der Welt. Ausgeschlossen. Außerdem habe ich Gott gesagt, daß ich es schaffen würde. Und wenn du das nicht verstehen willst, ist es mir egal: Ich tue all dies aus Liebe zu meinem Geliebten, und ich schwöre dir, ich werde es schaffen.
    »Onkel, können Sie mich hören?«
    Er verflucht mich. Ich bin kein schlechter Mensch, Onkel; du denkst, ich sei schlecht, aber alles, was ich tue, tue ich zu einem guten Zweck. Heute nachmittag habe ich gebeichtet, nun bin ich rein. Fast rein. Du hast kein Recht, mich zu verfluchen, du hast kein Recht, mich so anzusehen.
    »Setzen Sie sich, Senyora. Sie müssen auch an sich denken.«
    Ich denke ununterbrochen an mich.Warum bist du so hart, Onkel? Siehst du denn nicht ein, daß ich nicht mehr zurück kann? Du denkst, du weißt alles, dabei weißt du nicht einmal die Hälfte.Verstehst du denn nicht? Die Dinge sind nun einmal geschehen, und wenn ich eines gelernt habe im Leben, so ist es, daß wir nichts ungeschehen machen können, so sehr wir es uns auch wünschen: Wir müssen es hinnehmen. Dasbedeutet, stark zu sein. Und wer mich dafür verurteilen will, daß ich nichts anderes getan habe, als das Andenken meines Vaters und meines Bruders zu ehren und meinem Geliebten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollte zuerst sehen, ob er frei von Schuld ist,

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