Die Stimmen des Flusses
will.«
»Warum, wenn Sie an das Ganze nicht glauben?«
»Weil die betreffende Person nicht verdient hat, daß ihr Andenken so verfälscht wird.«
Stille. Dunkelheit im einsamen Kirchenschiff. Dunkelheit in der Seele des Pfarrers, der nicht wußte, was er davon halten sollte. Er sah zum Gitter. Dort blieb alles so lange still, daß der Pfarrer schon dachte, sein seltsames Beichtkind sei verschwunden, nachdem es in seinem Inneren eine kleine Hölle entfacht hatte.
»Ich rate Ihnen, keine schlafenden Hunde zu wecken, meine Tochter«, erinnert er sich nach langem Schweigen schroff gesagt zu haben. Dann hatte er mit einem Kirchenoberen gesprochen, und dieser hatte ihm geraten: »Wenn jemand sagt: ›Wer etwas gegen die Seligsprechung einzuwenden hat, soll vortreten‹, dann tu das, mein Sohn.«
»Und wenn niemand etwas sagt?»
»Dann schweig für immer.«
»Passen Sie auf, daß er Ihnen nicht noch mal runterfällt«, mahnt ihn der Mann zu seiner Rechten und gibt ihm denZettel zurück, auf dem die Seligsprechung Francos gefordert wird.
In der Bank für die Ehrengäste lauscht Senyora Elisenda mit gesenktem Kopf, still und bleich, auf das, was ihr Rechtsanwalt Gasull über die Fotos erzählt. Marcel und sein Sohn sehen von Zeit zu Zeit auf die Uhr, weil das Ganze überhaupt kein Ende nimmt. Mertxes Gesichtsausdruck ist unergründlich. Gasull, den Elisendas Aussehen beunruhigt, läßt sie nicht eine Sekunde aus den Augen. Er wagt es nicht, sie zu fragen, »Geht’s dir gut?«, weil er sich vor Jahren angewöhnt hat, nur auf ihre Fragen zu antworten und seinen Kummer allein zu tragen.
Elisendas Gesicht ist verzerrt; sie möchte weinen, aber es gelingt ihr nicht. Sie erinnert sich an den letzten Abend, die Überraschung, den Schrecken, seine ungeschickte Ausrede mit den Büchern, seinen Blick, und ich war erstaunt und verwirrt, ich mußte dem Onkel sagen, es ist der Dorfschullehrer, Onkel, er will ein paar Bücher abholen. Warum bloß wollte ich hinterher herausfinden, was es mit diesem Blick auf sich hatte, warum wollte ich wissen, worüber du mit mir reden wolltest? Verflucht sei die Stunde, in der ich meinen Mantel übergezogen habe und hinausgegangen bin. Warum nur, Oriol, wir haben uns doch so geliebt. Doch trotz der bitteren Erinnerungen gelingt es der alten Dame nicht, auch nur eine Träne zu vergießen. Der selige Oriol. Siehst du, Gott? Ich habe dir gesagt, ich würde es schaffen.
In den hinteren Bänken weinen die leidigen Damen, die Zettel über Franco zirkulieren verstärkt, jemand flüstert: »So viele spanische Heilige, wie schön, allen voran der heilige Josemaría Escrivá de Balaguer y Albás. Vielleicht wäre dies der richtige Zeitpunkt, die Heiligsprechung von Isabella der Katholischen zu betreiben. Ja, das sollten wir angehen.« Ganz hinten sitzt Hochwürden Rella hinter einer Säule, erinnert sich an eine Beichte und wünscht sich, er wäre zurück im Vall d’Àssua und könnte dem ewigen Gesang des Pamano lauschen.
36
Auf dem Grabstein von Peret von den Moliners stand Pedro Moner Carrera (1897-1944), und während der Steinmetz Pere Serrallac ihn anfertigte, versuchte er vergeblich, die gellende Traurigkeit in seinem Inneren zum Verstummen zu bringen. Ich hätte ihn warnen müssen, aber ich habe mich nur darum gesorgt, daß Jaumet sich nicht länger dort herumtreibt, an das verfluchte Foto hab ich nicht gedacht. Ich hätte dich warnen sollen, Peret, mach, daß du wegkommst, das Ganze fliegt uns gleich um die Ohren, paß auf, daß du nichts abkriegst.
In der Dorfkirche von Sant Feliu hielten die Honoratioren die ersten Bankreihen auf der rechten Seite besetzt; die linke hatten sie für die arme Encarnació und den Sohn freigelassen, der in Lleida arbeitete und mit einem benommenen Gesichtsausdruck angereist war, den er während der gesamten Beerdigung nicht ablegte. Unter den Honoratioren saßen die Bürgermeister und Chefs des Movimiento aus Sort, Altron, Rialb, Montardit, Enviny, Torena, Llavorsí und Tírvia – der Zivilgouverneur hatte sich entschuldigen lassen – sowie der gesamte Lehrkörper des Regierungsbezirks mit Ausnahme der Lehrer und Lehrerinnen, die von außerhalb kamen und gerade in anderen Teilen des Vaterlands ihren verdienten Urlaub genossen.
Peret von den Moliners. Pere Moner Carrera, dachte Oriol und starrte ausdruckslos auf den Nacken von Hochwürden Colom, der sich dem Altar zugewandt hatte und nicht bereit schien, seine Geheimnisse mit der Gemeinde zu teilen.
Die in
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