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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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macht Jordi?« Da verstand sie, daß Arnau unwiderruflich aus ihrem Leben verschwundenwar und daß sie auf einen Schlag Sohn, Mann, Katze und mit ein wenig Pech auch Brust und Leben verlieren würde. Und das Grau der Stufen, die Kälte auf der Esplanade, das Licht des Spätnachmittags und ihre Verzweiflung. Sie fotografierte das Licht, um diese Traurigkeit, die mit Worten nicht auszudrücken war, irgendwo festzuhalten.
    Der Zug nach Zuera ging erst um zehn Uhr abends, und so blieb ihr noch genügend Zeit, sich mit ihrem Kummer in irgendeinen Winkel zu verkriechen. Als sie die Kirche betrat, war sie erstaunt, sich selbst dabei zu ertappen, wie sie das Weihwasserbecken suchte. Der Geruch nach geschmolzenem Wachs, die Reste des Weihrauchs von der Liturgie, Halbdunkel und Stille. Sie setzte sich ein wenig abseits in eine der vorderen Bänke. Ein paar Besucher bestaunten die Seitenaltäre. Ein dunkler Schatten hängte ein Schild auf, auf dem stand, daß die Besuchszeit für die Kleiderkammer vorbei sei, und plötzlich füllte sich der Raum rund um den Altar mit Sängerknaben, die keine Hände zu haben schienen und, ohne sich Gott zu empfehlen, das »Virolai« anstimmten. Trotz ihrer Müdigkeit lauschte Tina ihnen aufmerksam: Sie sangen aus voller Kehle, mit einer Vollkommenheit, die etwas Monotones hatte, ohne Makel, ohne Schwankungen, nicht wie sie. Sie dachte daran, wie sie viele Jahre lang kein Gotteshaus betreten hatte und wie sie, als sie später regelmäßig zu Konzerten in die Kirche ging, Zeichen, Symbole, Losungen, Bilder und Gerüche wiederentdeckt hatte, die sie von ferne riefen und denen sie mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenübertreten konnte. Aber an diesem Abend waren sie ihr keineswegs gleichgültig, sie betrachtete die Kirche wieder als Feind, der ihr den Sohn geraubt hatte. Dieses Mal betrat sie die Kirche als Feindin. Du und ich, wir liegen im Streit miteinander, Gott. Deshalb rede ich nicht mehr mit dir, wie die Ventura.
    Als sie erwachte, lag die Basilika im Dunkeln, und sie fröstelte. Erschrocken sah sie sich um. Sie war allein. Sie war indiesem Winkel eingeschlafen und … Sie sprang auf und ging zur Tür. Sie war verschlossen. Panik ergriff sie. Was tut man, wenn man in einer Kirche eingeschlossen ist? Schreien, bis ihre Angst von den Deckengewölben widerhallte und sich vervielfachte? Arnau würde einen Moment lang lächerlich dastehen, wenn sie ihm sagten, deine Mutter ist wirklich unmöglich, läßt sich einfach einschließen. Sie sah auf die Uhr. Es war neun Uhr abends, und sie war das einzige lebende Wesen im Kirchenschiff. Sie griff zu ihrem Handy und wählte unwillkürlich die Nummer von zu Hause. Doch als sie Jordis Stimme hörte, »Hallo, wer ist da, Tina, bist du’s?«, erschrak sie und legte auf. Sie wollte Jordi nicht wissen lassen, daß sie Arnau besucht hatte. Sie wollte nicht, daß ihre Stimme im Kirchenschiff widerhallte, das hätte ihr angst gemacht. Sie wollte nicht, daß Jordi erfuhr, daß sie sich in einer Kirche hatte einschließen lassen, daß sie überhaupt eine Kirche betreten hatte. Sie wollte nicht, daß Jordi ihr half. Sie wollte mit Jordi nichts mehr zu tun haben.
    Im fahlen Licht der wenigen brennenden Glühbirnen traten die Schatten noch stärker hervor. Sie setzte sich in eine Bank, beunruhigt über die Dunkelheit in ihrem Rücken, aber entschlossen, geduldig zu warten, worauf auch immer. Eine ganze Weile verstrich, bis sie merkte, daß sie weinte. Ihr kam in den Sinn, zu beten, Gott um Hilfe zu bitten, aber gleich darauf wurde ihr bewußt, daß ein Gebet in einem schwierigen Augenblick wie diesem ein obszönes Anliegen gewesen wäre. Natürlich hatten gläubige Menschen es viel besser als sie, Menschen, die an irgend etwas glaubten, und sei es nur eine politische Idee. Sie unterrichtete und fotografierte bloß und glaubte an das, was sich auf einem Film ablichten ließ, sei es Materie, Erinnerung oder Gefühl. An viel mehr glaubte sie nicht, außer vielleicht an die Erziehung als abstraktes Konzept. Und seit ein paar Monaten glaubte sie nicht einmal mehr an Jordi, ihre große Liebe, aus der plötzlich großer Haß geworden war. Oder nein: große Gleichgültigkeit. Nein, nicht Gleichgültigkeit: große Verachtung. Wenn du dasVertrauen in jemanden verlierst, den du rückhaltlos geliebt hast, so ist das, als würde dieser Mensch gegen deinen Willen in deinen Armen sterben. Darum konnte sie nicht beten, konnte die Zeit in dieser Basilika nicht nutzen, jetzt, da

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