Die Stimmen des Flusses
sie sie für sich allein hatte. Sie konnte sich nur, sprachlos vor Schmerz, eingestehen, daß ihr Sohn und ihr Mann eine andere Liebe der ihren vorgezogen hatten.
Seit Monaten hatte Tina nicht mehr so lange Zeit in Stille nachgedacht. Seit dem Augenblick, in dem Renom ihr gesagt hatte, sie habe Jordi in Lleida gesehen, als er in La Seu hätte sein sollen, bei einer Konferenz, bei der Arbeit. Seit dem Tag, an dem sie erfahren hatte, daß Jordi sie belog, war sie unfähig gewesen, längere Zeit ruhig zu sitzen, weil dann sämtliche Dämonen über sie herfielen. Zum Glück blieb ihr noch das Buch, das sie beenden, und Oriol Fontelles’ Leben, das sie entwirren mußte. Zum Glück war sie geschickt darin, das Nachdenken zu vermeiden. Bis zu diesem glorreichen Tag, an dem sie sich wie ein Trottel in der Basilika des Klosters von Montserrat hatte einschließen lassen und nicht hatte verhindern können, daß ihr ganzes Unglück vor ihren Augen vorbeidefilierte wie bei einer ironischen, grausamen Modenschau.
Um halb zehn, als sie am Bahnhof von Sants hätte sein sollen, hörte sie ein Geräusch hinter sich, und irgendwo ging ein schwaches Licht an. Sie sah sich um. Oben im Chor regte sich etwas. Sollte sie schreien? Einem atavistischen Reflex folgend, verbarg sie sich hinter einer Säule und spähte zum Chor hinauf. Die Mönche kamen herein und stellten sich, soweit sie erkennen konnte, an festen Plätzen auf.
Zum ersten Mal in ihrem Leben wohnte Tina Bros einem Gebet zur Komplet bei. Die Mönche sangen eine strenge, kurze Melodie, die sie nicht kannte. Eine dieser Stimmen gehörte vielleicht Arnau. Um keinen Preis hätte sie den Zauber zerstören wollen, indem sie sich zeigte. Nachdem die Mönche geendet hatten, war der Chor innerhalb kürzester Zeit wieder dunkel und still, und ihr blieb nur die Erinnerung andiesen schönen Augenblick. Erst jetzt fiel ihr der Zug wieder ein, aber es war zu spät. »Wenn du aber nicht wachen wirst, werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde«, las sie in einer Bibel, die vergessen auf einem Tischchen an einer Säule lag. Wie ein Dieb werde ich durch mein Leben gehen und durch das Leben der anderen, wenn sie mich lassen.
Die Nacht war eisig, aber trotz ihrer Angst und der unbequemen Bank schlief sie schließlich ein.Als sie sich unter die ersten Besucher mischte und mit zerschlagenen Knochen dankbar ins Tageslicht blinzelte, sah sie trotz der blendenden Helle, daß der Tag dunstig war. Die Landschaft war bedeckt vom kalten Nebel der ersten Märztage, eine ideale Traumlandschaft, denn das Laken aus Nebel hüllte alles bloß Zufällige, Beiläufige, alle Mängel ein und ließ nur die Grundidee, den Traum zurück.Wenn ich aus Zuera zurück bin, sagte sie sich, werde ich wieder herkommen und ihm sagen, wir haben uns getrennt, mein Sohn, auch wenn dein Vater das noch nicht weiß, und frag mich nicht nach Einzelheiten, weil ich sie dir nicht verraten werde.
Tina blickte zum Kloster zurück. Sie haßte es, melodramatisch zu werden, aber ihr kam in den Sinn, daß sie es vielleicht nie wiedersehen würde. Ich liebe dich,Arnau. Ich muß dich nicht verstehen, aber ich muß dich wohl akzeptieren. Das Kloster ihres Sohnes. Sie machte eine traurige Aufnahme davon. Sie hatte den Zug nach Zuera verpaßt, aber ihren Glauben nicht zurückgewonnen.
56
Mit achtunddreißig Jahren durchschritt Feliu Bringué von den Feliçós zum ersten Mal in seinem Leben den Haupteingang von Casa Gravat. Das Haus war in aller Munde, und jedermann im Vall d’Àssua wußte genau, wo die Möbel standen, wie das Holz gemasert war, welche Farbe die Vorhänge hatten; jeder kannte das Bildnis der Hausherrin, das sie in strahlender Jugend verewigte, die Stille der schweren Stores, den feinen Duft nach Lavendel oder Apfel, der das Haus durchzog, die tiefen Glockenschläge der imposanten Wanduhr. Kaum zu glauben, daß es in Torena ein solches Haus gab, eine Treppe aus Edelholz, die hinauf zu größeren Geheimnissen führte, die vielen Fotografien im Wohnzimmer, das leise Knistern der Holzscheite im Kamin. Und einen wunderbaren Duft, sobald die Herrin des Hauses den Raum betrat.
»Du bist ein ehrgeiziger junger Mann mit Zukunft.«
»Ich trete an, um dem Dorf einen Dienst zu erweisen, nicht aus persönlichem Ehrgeiz.«
Sie lächelte, ungeachtet der Tatsache, daß dieser Junge der Sohn eines der Männer war, die sie am meisten haßte, und daß sie lange gezweifelt
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