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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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sterben.
    »Wir können uns schon zusammenreißen, keine Angst.«
    »Warum bist du traurig?«
    Die moralische Autorität des Sohnes. Nun bestimmt dein Sohn über dich und will wissen, warum du traurig bist. Und wie alle Kinder erzählst du ihm nichts, nicht, daß du ein Problem mit deinem Mann hast und eines mit deiner Brust, du weißt noch nicht, was schlimmer ist. Und einen Lehrer, der zum Maquis gehörte und dessen Identität mit Lügen behaftet ist, die du aufdecken willst, du weißt selbst nicht genau, warum, wahrscheinlich, um dich zu retten, um dich weniger schuldig zu fühlen. Das Leben ist kompliziert: Ich möchte dirgerne sagen, daß ich krank bin und daß mir das angst macht. Aber ich will es dir nicht sagen, weil ich nicht will, daß du für mich betest, weil Gebete und Chemotherapie nicht zusammenpassen, weil ich mir treu bleiben will, verstehst du mich, Arnau? Weil Jordi mir auf einmal nicht mehr treu ist. Das Schweigen bringt mich um, ich kann kaum an mich halten, möchte dir wieder und wieder sagen, ich bin krank, sie müssen meine rechte Brust abnehmen, und ich hoffe, daß es dabei bleibt; die Ärztin sagt, das wird kein Nachspiel haben, ich hatte Glück, und ich frage mich, ob man von Glück reden kann, wenn sie einem die Brust abnehmen.
    »Nur so.«
    Tina trat auf Arnau zu und streichelte seinen Nacken. Sie sah ihn an. Es gefiel ihr nicht, ihn im schwarzen Habit eines Novizen zu sehen. Überhaupt nicht. Es gab ihr vielmehr ein Gefühl der Niederlage, aber sie sagte nichts, um ihn nicht zu kränken.
    Als sie den Bruder Pförtner nach ihm gefragt hatte, hatte sich dieser im Namen der Bruderschaft verwundert gezeigt, weil offensichtlich keine Besuchszeit war, und sie hatte geantwortet, sie komme von außerhalb, was ziemlich dumm war, denn in Montserrat kam schließlich jeder von außerhalb. Sie hatte hinzugefügt, sie habe etwas Wichtiges mit ihrem Sohn zu besprechen und ob sie bitte so freundlich wären, und der Bruder Pförtner war diskret verschwunden und noch diskreter wiedergekommen und hatte sie ohne ein weiteres Wort in einen unpersönlichen Raum geführt, den jemand in dem vergeblichen Versuch eingerichtet hatte, ihm eine persönliche Note zu verleihen. Die Wand zierte ein Bild von einem unbekannten Winkel des Berges in Ocker und Grün, die Imitation eines Mir, aber signiert von einem gewissen Cuscó oder Cussó. Ein eigenartiger Geruch, den sie nicht zu definieren vermochte, hing in der Luft. Sie hatte fünf Minuten gewartet, allein, und gedacht, wer weiß, wo sie ihn herholen müssen in diesem riesigen Gebäude. Der Gemüsegarten, die Sakristei, die Bibliothek, die Küche,alles lag weit auseinander. Dann war die Tür zu den Sprechzimmern aufgegangen, und Schritte hatten sich dem Raum genähert, in dem sie saß. Ein Mönch … nein, Arnau. Arnau in schwarzer Kutte und mit kurzgeschnittenem Haar, gesundem, kräftigem, aber kurzgeschnittenem Haar. Ohne Bart. Arnau, der sich in ein Kloster geflüchtet hatte. Arnau, verkleidet als Mönch. Mein Gott. Seine Hände waren schneeweiß wie zwei Vögel in der Morgendämmerung, verborgen unter weitem schwarzem Stoff. Er hatte ruhig gelächelt und gefragt, »Mutter, wie geht’s, ist irgendwas?«, und sie war ihm wortlos um den Hals gefallen, weil der Anblick von Arnau im Mönchsgewand zuviel für sie war und sie mit Jordi nicht darüber reden konnte. Die vielen unausgesprochenen Dinge machten sie krank.
    »Ich bin nicht traurig, nur müde.Weißt du, daß mein Buch beinahe fertig ist?«
    »Worum ging es noch mal?«
    Sie war enttäuscht. Er erinnert sich nicht. Er nimmt überhaupt keinen Anteil an meinem Leben.
    »Um die Häuser, Dörfer und Friedhöfe im Pallars.«
    »Ach, wie schön. Bringst du uns ein Exemplar fürs Kloster?«
    »Ich bringe eines für dich. Es ist schwieriger, als ich dachte … die Texte, die Bildunterschriften … und Dinge, die ich nach und nach herausfinde. Aber es geht voran.«
    Von irgendwoher erklang eine Glocke. Man hörte sie kaum in den Sprechzimmern, doch sie merkte, wie Arnau die Ohren spitzte, und nach zwanzig Sekunden hatte er sie schon geschickt dazu gebracht, aufzustehen, und geleitete sie zurück in den Empfangsraum, in dem der Bruder Pförtner vor seinem Computer saß, mit seiner Brille und seinem Lächeln, das dem Lächeln Arnaus sehr ähnlich war. Als sie verwirrt auf den Stufen stand, hörte sie noch, wie Arnau fragte, »Was macht Juri Andrejewitsch?«, im gleichen Tonfall, in dem er sie zuvor gefragt hatte: »Was

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