Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
Vom Netzwerk:
davon hören.«
    »Ich freue mich, ihn kennenzulernen«, sagte Oriol und sah Elisenda in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick mit gleicher Intensität und Unschärfe, und Oriol stand auf, weil es keinen Sinn hatte, diesen vergeblichen Besuch fortzusetzen. Er verabschiedete sich vom Onkel und ging hinaus.
    »Die Bücher.«
    Der Geistliche zeigte mit seiner Brille auf die Bücher. Die Bücher. Elisenda nahm sie und gab sie Oriol, während sie sagte: »Jetzt sind Sie gekommen, um Ihre Bücher abzuholen, und hätten sie beinahe liegengelassen.«
    Da der Geistliche aufgestanden war und Anstalten machte, ihn in die Vorhalle zu begleiten, verabschiedete sich Oriol mit einem höflichen Händedruck für immer von seiner Geliebten und sagte unbestimmt, »Sie wissen ja, wenn Sie noch mehr Bücher ausleihen wollen …«, und dann: »Einenschönen Abend noch und gute Nacht.« Als sich die Tür hinter ihm schloß, betrachtete er im Licht des Eingangs von Casa Gravat die Bücher. De imitatione Christi von Thomas a Kempis und die geistliche Biographie des Jesuiten Alonso Rodríguez, verfaßt von dessen Mitbruder L. Jacobi.
    Als sich Hochwürden August endlich auf sein Zimmer zurückzog, stand Elisenda auf, starrte in das heimelige Kaminfeuer und holte dann ihren Mantel. Sie sagte Bibiana nicht Bescheid, damit diese nicht auf die Idee käme, sie zurückzuhalten oder ihr zur Vorsicht zu raten; Bibiana wußte schon, daß diese Geschichte ihrem Mädchen nicht guttun würde, und versuchte seit Tagen, ihr das mit ihren Blicken mitzuteilen.
    Elisenda ging durch die Hintertür hinaus, durch die eines Tages ihre Mutter geflohen war. Eisige Kälte schlug ihr ins Gesicht. Vor zehn Tagen hatte es in Torena zu schneien begonnen, und am Tag zuvor waren die Temperaturen gefallen. Kein Zweifel: es ging auf den Winter zu. Der Himmel war bedeckt, es war Neumond, und der schimmernde Schnee färbte die Straßen und Elisendas Gesicht leichenfahl. Vor dem einsamen Schulgebäude angelangt, glaubte sie, ein fernes Heulen zu hören, als seien die Wölfe zum Tossal oder zum Bony d’Arquer zurückgekehrt. Sie klopfte ein paarmal an die Scheibe des Klassenzimmers, und ihr war, als wäre das Klopfen bis in den letzten Winkel Torenas zu vernehmen. Wieder klopfte sie, und wieder ertönte das ferne Geheul. Niemand antwortete.Was Oriol wohl gerade macht? dachte sie. Sie wollte ihn fragen, was dieser Blick zu bedeuten hatte, was war los, wovor hast du dich gefürchtet, was wolltest du mir sagen und konntest es nicht, weil mein Onkel da war? Sie klopfte noch einmal an die Scheibe – und dann kam ich auf die Idee, das Gesicht ans Glas zu pressen und hineinzuspähen. Nichts. Was hatte dieser Blick zu bedeuten, Oriol? Das war der Moment, in dem ich für immer unglücklich wurde. Senyora Elisenda, die mit geneigtem Kopf auf der Ehrenbanksaß, hörte nicht, wie Gasull zu ihr sagte: »Der Heilige Vater geht; naja, er wird hinausgeführt, er kann ja nicht mal mehr laufen, und ich vermute, jetzt werden sie uns sagen, daß das Ganze vorbei ist. Ich nehme an, du bist zufrieden, denn alles in allem war es doch eine sehr ergreifende Zeremonie, nicht wahr, Eli? Hörst du mich? Geht’s dir gut?«
    Senyora Elisenda ging es weder gut noch schlecht; sie war sechzig Jahre zurück, in jener kalten Nacht, in der sie beharrlich an die Fensterscheiben der Schule klopfte und noch nicht wußte, daß damit ihr Unglück begann. Verflucht sei die Stunde, in der ich das Heulen wieder gehört habe und plötzlich das Gefühl hatte, es käme von innen. Ich erschrak, stieß die Tür auf und wunderte mich nicht einmal, daß sie nachgab. Ich trat in den dunklen Korridor und rief: »Oriol, Oriol.« Das Heulen war nun deutlicher, aber ebenso fern zu hören. Es kam von der Tür zur Linken.
    In diesem Augenblick nahm Oriol die Kopfhörer ab, um einen Moment auszuruhen und stellte fest, daß die Tür zum Dachboden lautlos aufschwang. Idiot, dachte er, du hast die Tür nicht gut genug verriegelt, und jetzt wirst du in Targas schwarze Pistolenmündung blicken. Er dachte sogar daran, daß er das nicht mehr seiner geliebten, namenlosen Tochter würde erklären können. Die Tür war offen. Aber nicht Targa, sondern Elisenda stand im schwachen Schein der Petroleumlampe, die den Dachboden verpestete und die Schatten nur halb vertrieb. Oriol richtete seine Pistole auf den Eindringling. In diesem Augenblick ertönte aus dem Funkgerät ein verräterisches Heulen, und beide hörten durch den Kopfhörer die

Weitere Kostenlose Bücher