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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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möglichst ungeduldig und streng zu klingen.
    Die beiden Bodyguards mit ihren Ohrstöpseln waren am Wagen angekommen. Einer von ihnen bückte sich und sah zum Wagenfenster hinein.
    »Uns wurde gesagt, Sie …« Er sah die Unbekannte mit professioneller Wachsamkeit an. Dann fragte er Senyor Vilabrú: »Alles in Ordnung?«
    Senyor Marcel Vilabrú Vilabrú war der Gedanke unangenehm, die beiden Gorillas könnten denken – und weitererzählen –, er ließe sich mit so beschränkten Frauen wie dieser hartnäckigen Unbekannten ein. In diesem Augenblick erklang gedämpft die Ouvertüre Russische Ostern von Rimski-Korsakow, und er setzte die resignierte Miene auf, die er immer aufsetzte, wenn diese Ouvertüre erklang und eine Frau in der Nähe war, und sagte: »Was gibt’s, Carmina?«
    »IKEA hat ja gesagt.«
    »Und Bedogni?« Plötzlich war er hellwach.
    »Ist auf dem Weg nach Stockholm.«
    »Annullier die Reservierung in Antibes. Ich will noch heute abend in Stockholm sein.«
    »Ich erinnere Sie daran, daß Sie am Sonntag im Vatikan sein müssen.«
    »Weiß ich. Notfalls fliege ich direkt hin. Ach ja, und entschuldige mich bei Natalie.« Er sah, wie seine Bodyguards sich entfernten, um das Gespräch nicht mit anzuhören. Die fordernde ehemalige Angestellte blieb still neben ihm sitzen. »Sag ihr, ich rufe sie an. Laß ihr einen Strauß schicken … Ich weiß nicht, entscheide du. Mit Dingsda … Dahlien. Die mag sie besonders gern. Einen Dahlienstrauß.«
    Er beendete das Gespräch, ohne sich von Carmina zu verabschieden, und seufzte. Zu dem Bodyguard, der ihm am nächsten stand, sagte er: »Ich bin auf dem Weg zum Flughafen.«
    Ohne die Unbekannte anzusehen, sagte er: »Senyora, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Würden Sie bitte aus dem Wagen steigen?« Als Antwort überreichte sie ihm einen großen, ziemlich dicken Umschlag. Erpressung. Ein Erpressungsversuch vor der Nase seiner Sicherheitsleute. Mit welcher Frau hatten sie ihn erwischt und wie?
    »Es ist die Abschrift eines Briefes, den Ihnen Ihr Vater vor siebenundfünfzig Jahren zu Ihrer Geburt geschrieben hat. Ich habe das Original.«
    Sie öffnete die Beifahrertür. »Es ist auch eine Visitenkarte von mir dabei, mit Telefonnummer und so weiter.«
    »Soll das ein Witz sein?«
    »Bitte lesen Sie den Brief und glauben Sie, was darin steht. Dann können wir darüber sprechen, wenn Sie gestatten.«
    Nervös riß Marcel Vilabrú den Umschlag auf. Er enthielt computergeschriebene Seiten. »Geliebte Tochter, ich kenne nicht einmal Deinen Namen«, las er, ohne die Papiere aus dem Umschlag zu nehmen. Er sah die Frau an. »Ich glaube, Sie irren sich. Mein Vater hatte keine Tochter.«
    »Nein: Ihr Vater schreibt an Sie, auch wenn er Sie Tochter nennt. Sie werden es schon verstehen, nehme ich an …«
    Bevor sie die Tür zuschlug, sagte sie noch: »Rufen Sie mich an, wenn Sie alles gelesen haben.«
    Der Flug nach Kopenhagen erschien ihm kurz. Er aß nicht und erwog nicht einmal, ein Glas Champagner zu trinken. Anstatt das Material und die Dokumentation für IKEA durchzusehen – schließlich kannte er sie auswendig –, las er zweimal den Brief dieses großartigen Fontelles an seine Tochter, die, glaubte man einer unbekannten, reichlich durchgeknallten Frau, angeblich er war. Dann starrte er aus dem Fenster. In der Businesslounge des Flughafens von Kopenhagen aß er zerstreut ein paar Erdnüsse, die man vor ihn hingestellt hatte, und überflog die zahlreichen Seiten dieses seltsamen Briefes erneut. Er betrachtete die Karte der Frau: Name, E-Mail,Telefonnummer. Und eine Adresse in Sort.
    Plötzlich raffte er sich auf, nahm die Blätter und ging zum Schredder. Er steckte sie hinein, eines nach dem anderen; im letzten Augenblick behielt er die Karte der Frau zurück. Marcel Vilabrú, die geliebte, namenlose Tochter, griff entschlossen nach der Mappe mit den Unterlagen von Saverio Bedogni und IKEA und verließ die Businesslounge, als eine sanfte, liebenswürdige Stimme den Flug nach Stockholm aufrief.
    Rom war – vor allem nach Stockholm – Chaos und Lärm, ein recht einfallsreicher Fahrstil, Geschrei und zehntausend Kirchen auf den sieben Hügeln. Mamà war taktvoll genug gewesen, sie in unterschiedlichen Hotels unterzubringen, und so mußte Marcel Vilabrú im Hotel anrufen, in dem Senyora Elisenda wohnte, um anzukündigen, er werde vor dem Abendessen in der Suite seiner Mutter vorbeisehen. Ihm wurde gesagt, sie habe einen Tisch im Hotel reserviert und wolle allein zu

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