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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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erfreut.«
    »Ich versuche, sie zu überreden«, sagte Valentí leise, damit die anderen ihn nicht hören konnten, »sich hier niederzulassen.«
    »Es ist ein ruhiges Fleckchen«, log Oriol, um irgend etwas zu sagen.
    Sie war so verwirrt, daß sie stumm blieb. Oriol schien es, als blicke sie nach rechts und links und überlege, wie man einem Mörder wie ihm entkam. So entschuldigte er sich mit einem noch freundlicheren Lächeln, sagte, der Unterrichtmüsse beginnen, und verließ Casa Marés in dem Wissen, daß alles vorbei war. Aber den ganzen Tag über, meine Tochter, ist niemand gekommen, und niemand hat mir etwas gesagt. Ab und zu warf ich einen heimlichen Blick aus dem Fenster. Nichts. Alles war normal. Warum ich nicht fliehe? Weil ich heute nacht wachbleiben und auf dem Dachboden der Schule das Funksprechgerät bedienen muß, das sie mir vor zehn Tagen gebracht haben. Ich bin der Verbindungsmann zwischen der Dritten und der Vierhunderteinundsiebzigsten Brigade, die morgen, am Tag der Großen Operation, von zwei Seiten vom Montsent herabkommen werden, bis sie siegreich in Tremp einmarschieren und das franquistische Heer schreiend vor Angst die Berge hinabflieht bis in die Ebene. Darum kann ich nicht fliehen, meine Tochter, obwohl ich nichts lieber täte.
    Als die Kinder die Schule verließen, hatte der Wind sich gelegt. Ein kleines Mädchen mit kohlschwarzen Augen, das im letzten Jahr lesen gelernt hatte und jetzt schon mit drei multiplizieren konnte, nahm, bevor es hinausging, Oriols Hand in seine kleinen Hände und sah ihn scharf an, mit dem gleichen dunklen Blick wie Leutnant Marcó, als ahnte es, daß es galt, Abschied zu nehmen von dem Lehrer, den die Großen so sehr haßten.Auf Wiedersehen, Herr Lehrer, gutes Sterben. Das ist dein letzter Abend in diesem Dorf. In diesem Leben. Wir werden dich in Erinnerung behalten, o ja, denn du hast keinen Finger gerührt, als du hättest verhindern können, daß Bürgermeister Targa, der Henker von Torena, völlig ungestraft raubte und mordete und das Dorf in einen Zustand immerwährenden Mißtrauens versetzte, so daß es am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts einer molligen, verunsicherten Lehrerin bedurfte, um deine Taten und deine Sorgen aus dem Schatten zu holen, denn noch immer lebt der falangistische Lehrer in der Erinnerung und den Blicken vieler Alter und auf den Steinplatten, die eine geschickte Hand zu Gedenksteinen gemacht hat.
    »Bis morgen, mein Kind.«
    Er blieb allein zurück, die Hände voller Kreidestaub, und beobachtete, wie eines der Kinder in der Nachmittagsdämmerung einen Stein kickte, auf dem Weg nach Hause, zu einem ordentlichen Essen. Er wischte die Tafel nicht. Nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, stieg er auf den Dachboden, schob die beiden Matratzen beiseite, zündete die Petroleumlampe an und schaltete das Funkgerät ein. Sollte er durchgeben, daß er wahrscheinlich Probleme bekommen würde? Sollte er nur darauf hören, was die Funker der beiden Brigaden von ihm wollten? Er stellte die Verbindung her, sagte aber nichts davon, daß er nicht fliehen würde, auch wenn sie ihn diese Nacht wegen einer Zuckerpuppe oder – wenn man es so wollte – wegen eines Kaffees mit Schuß umbrachten. Er sagte nur, »Jott-fünf, hier ist Jott-fünf, hörst du mich? Ende«, und dergleichen mehr. Ja, alle hörten ihn, und die Antenne, die er am Hang von Triador aufgestellt hatte, tat ihren Dienst. Und auch die unsichtbaren Funker waren mit dem Test zufrieden und zitierten ihn für zwei Stunden später, Jott-fünf, um einundzwanzig Uhr, Jott-fünf, wenn es ganz dunkel ist, denn da beginnt das Spektakel. Eine schlaflose, schneekalte Nacht.
    Als er das Funkgerät ausschaltete, hatte er endgültig beschlossen, nicht zu fliehen, hatte den Tod akzeptiert, der merkwürdig lange auf sich warten ließ. Wenn sein Handeln irgendeinen Sinn haben sollte, so wollte er diesen nicht durch eine Funkstille zunichte machen, die zwei der fünf in den Pallars einrückenden Brigaden hilflos zurücklassen würde. Er wußte nicht, daß in diesem Augenblick an mehr als dreißig verschiedenen Stellen in den Pyrenäen, vom Atlantik bis zum Cap de Creus, Hunderte von Guerrilleros einzusickern begannen, deren Schicksal davon abhing, was im Vall d’Aran geschah. Oriol, der nur wußte, was er tun mußte, dachte, wenn Valentí Targa sich entschlösse, ihn anzuzeigen oder ihn verdammt noch mal endlich umzubringen, wäre er von diesem tauben Druck befreit, an den zu denken er

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