Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
Vom Netzwerk:
beglückwünschte ihn überschwenglich und fragte höflich, ob er etwas für ihn tun könne.
    Nein, nichts. Ich bin gekommen, um Elisenda zu küssen, sie zu lieben und mich zu beherrschen, damit ich ihr nicht sage, adieu für immer, denn wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen.
    »Nein, nichts.« Er wandte sich an Elisenda. »Ich bin nur gekommen, um die Bücher zu holen, die ich dir … die ich Ihnen geliehen habe.«
    Elisenda brauchte einen Moment, bis sie begriff, dann lächelte sie ihrem Geliebten zu, deutete auf einen Sessel und sagte, »Setzen Sie sich doch, Senyor Fontelles«, nahm seinen Mantel und ging hinaus.
    Senyor Fontelles nahm Platz, sagte zu dem korpulenten Kanoniker, »Heute war der Wind wieder ganz besonders schlimm«, und Hochwürden August erwiderte: »Das stimmt, ich habe schreckliche Kopfschmerzen und würde am liebsten zu Bett gehen.«
    Dann schwieg er, und Oriol ebenfalls. Der Geistliche setzte seine Brille wieder auf und dachte zerstreut, die Gruppe reeller Funktionen hat eine ringförmige, einheitliche Kommutativstruktur, und Oriol sah das Bild an und dachte, ich bin gekommen, um dich zu sehen, weil ich nicht sicher bin, ob ich morgen noch am Leben sein werde. Das ist eine lange Geschichte, denn ich bin nicht nur dein heimlicher Geliebter, ich habe noch mehr Geheimnisse vor der Welt und vor dir. Ich bin müde und erschöpft davon, mein Leben inGeheimnisse aufgeteilt zu haben, und ich sehne mich nach der Ruhe des Todes.
    »Welche Bücher haben Sie ihr denn geliehen?« Neugierig schlug Hochwürden August sein Buch zu, um ein Weilchen mit diesem netten jungen Mann zu plaudern.
    »Nichts Besonderes, ein paar … Nun, ich habe ihr … Sie ist eine eifrige Leserin … und da die Kultur so geringgeschätzt wird …«
    »Bauern«, sagte Hochwürden August verächtlich. »Von denen ist nichts anderes zu erwarten. Die Kühe, das Heu im Schober, die Schafe und Ziegen, die auf den Bergen herumlaufen, ein paar Scheffel Weizen für den Eigenbedarf, die Hoffnung, daß aus dem Fohlen was wird … weiter reicht ihr Ehrgeiz nicht.«
    Die Uhr tickte, Oriol lächelte unverbindlich. Draußen war es kalt und still, drinnen knisterte das Holzscheit im Kamin und versprühte Funken. Elisenda kam und kam nicht zurück, und er hatte Lust zu erwidern, nun, Ihre Familie kann dankbar sein für die Kühe, Lämmer und die vielen Hektar Heu, die ihr überall gehören.
    »Ich weiß schon, daß Sie denken müssen, daß Casa Gravat auch davon lebt«, sagte der Geistliche hellsichtig. »Aber wer tausend Schafe besitzt statt zwei Dutzend ist doch sehr viel weltoffener, finden Sie nicht, junger Mann?«
    Da kam Elisenda mit zwei schmalen Büchern zurück, die sie auf den Tisch legte. Neugierig sagte der Onkel, »Gib her, mal sehen, was der Herr Lehrer dir geliehen hat«, und Elisenda reichte ihm widerwillig die beiden altersgeschwärzten Büchlein. Hochwürden August setzte die Brille wieder auf, ließ sie bis auf die Nasenspitze heruntergleiten, schlug das erste Buch auf und schwieg. Er blätterte es rasch durch, schielte über seine Brille zum Lehrer hinüber und inspizierte das andere Buch, ebenfalls in schweigender Bewunderung.
    »Donnerwetter«, war sein einziger Kommentar, als er die Bücher wieder auf das Tischchen legte. Elisenda gab sie mit einem starren Lächeln an Oriol weiter, währendHochwürden August, die Brille in der Hand, Oriol eindringlich musterte.
    Dann sprachen sie wieder über den Wind und über die Anzahl an Schafen. Hochwürden erklärte, morgen, spätestens übermorgen, müsse er nach La Seu zurück, der Bischof brauche ihn, und er bete, daß der Paß von Cantó nicht verschneit sei. Um nicht stumm dabeizusitzen, erzählte Oriol von dem Gerücht, daß im Laufe des nächsten Schuljahres ein weiterer Lehrer nach Torena berufen werde, weil es von Tag zu Tag mehr Kinder gebe. Sogar Elisenda sagte etwas, was Oriol nicht mehr betraf, weil er zu dieser Zeit bereits tot wäre, nämlich, daß ihr Ehemann in der kommenden Woche für ein paar Tage kommen werde. Sie sagte es, um dem Onkel eins auszuwischen, der ihr seit Tagen in den Ohren lag, der Platz einer Frau sei an der Seite ihres Mannes, worauf sie ihm jedesmal entgegnete, an Santiagos Seite seien immer andere Frauen, viele andere Frauen. Hochwürden August sagte, »Heilige Mutter Gottes«, und bekreuzigte sich, und Elisenda beendete das Thema mit den schroffen Worten: »Mein Platz ist in Casa Gravat, für den Rest meines Lebens, und ich will nichts mehr

Weitere Kostenlose Bücher