Die Stimmen des Flusses
Abend essen oder mit Gasull, was auf das gleiche hinauslief. In einer halsbrecherischen Taxifahrt gelangte er zum Hotel seiner Mutter neben dem Vatikan. Es dämmerte bereits.Senyora Elisenda saß in ihrer Suite auf dem Sofa, still, die Hände im Schoß zusammengelegt, und kramte in ihren Erinnerungen. Sie schwieg lange, dann sagte sie: »Romà, sei so gut und lies mir auf der Stelle diese Papiere vor.«
»Ich habe sie vernichtet, Mamà.«
»Idiot.«
»Nein. So kannst du es nur aus meinem Mund erfahren.«
Er wandte sich an Gasull. »Läßt du uns bitte einen Augenblick allein?«
»Geh nicht, Romà.«
Gasull, wie immer zwischen zwei Loyalitäten hin- und hergerissen, erhob sich halb und sah Marcel an wie ein in die Enge getriebenes Tier. Er war zu alt für diese Spielchen. Marcel machte eine Handbewegung, die besagte, wie du willst, und Gasull nahm wieder Platz und seufzte, nicht vor Erleichterung, sondern vor Schmerzen, denn abgesehen von der Arthritis im rechten Knie wußte er, daß jetzt die Fetzen fliegen würden.
»Diesen Papieren nach war dein heiliger Oriol Fontelles ein kommunistischer Maquisard, und es gehört nicht viel dazu, sich vorzustellen, daß er dein Liebhaber war.«
»Das hat sich jemand ausgedacht, um ihm zu schaden.«
»Ich verstehe ja nicht viel von diesen Dingen«, fuhr Marcel fort, ohne den Einwurf zu beachten, »aber wenn Fontelles nicht das ist, was er offiziell ist, kann er morgen nicht seliggesprochen werden, nicht wahr?«
Sie brauchte zwei Sekunden, um eine neue, verzweifelte Grabentaktik zu ersinnen: »Du fragst nach den Einzelheiten aus dem Leben eines Mannes, der als Märtyrer gestorben ist, und willst nicht einmal wissen, ob er wirklich dein Vater war.«
»Das ist mir völlig egal.«
»Wie bitte?« Sie war verletzt und empört.
»Du hast ganz richtig gehört. Es ist mir schnurzpiepegal, Mamà.« Bevor sie etwas erwidern konnte, sagte er heftig:»Ich habe große Lust, einen Skandal loszutreten, in Erinnerung an das, was du mir vor zwölf Jahren angetan hast.«
»Marcel, ich bitte dich, hab doch …«
»Du hast hier nichts verloren«, sagte er kurz zu Gasull, »also halt den Mund.« Er wandte sich an Elisenda: »Dein Heiliger wird morgen nicht seliggesprochen.«
»Nun gut.Was willst du dafür?«
»Alles.«
Stille. Romà Gasull war außer sich, und Senyora Elisenda dachte zum zweiten Mal in ihrem Leben, Oriol, ich habe alles falsch gemacht, dein eigener Sohn will, daß ich Kummers sterbe, so wie du mich getötet hast, als deine verstörte Pistole auf mich gerichtet war und alle deine Geheimnisse zutage lagen. Dabei hat er deine Augen und deine Nase. Oder seid ihr eine verfluchte Rasse, nur dazu geboren, um mein Unglück noch zu vergrößern? Fassungslos riß sie die Augen auf, als könnte sie sehen. »Was soll das heißen, alles?«
»Du weißt schon. Alles. Du kannst dich nach Torena zurückziehen und zum heiligen Fontelles beten.«
Wäre sie nicht blind und ein paar Jahre jünger gewesen, wäre Romà nicht dabei, hätte sie ihren Sohn geohrfeigt.
»Willst du mich umbringen?«
»Nein, Mamà, um Gottes willen! Aber ich bin nun mal siebenundfünfzig Jahre alt und will endlich über mein Eigentum verfügen können, ohne dich jedesmal um Erlaubnis bitten zu müssen. Ich will gar nicht mehr um Erlaubnis bitten! So einfach ist das.«
»Na schön. Nach der Seligsprechung unterschreibe ich eine Verzichtserklärung.« Sie beugte sich zu Gasull hinüber: »Bereite sie für morgen vor.«
»Das ist ein Fehler, Elisenda.«
Mutter und Sohn sagten: »Sei still und halt dich da raus.« Wenigstens darin waren sie sich einig. Und sie einigten sich darauf, daß Mertxe sich ins Flugzeug setzen und in den Vatikan kommen solle, in einem langen, dunklen Kleid. Sie würden ihr zahlen, was sie dafür verlangte. Nur für dieFeierlichkeiten, Mertxe, ehrlich. Mertxe ex Vilabrú Centelles- Anglesola Erill ließ sich von Gasulls Argumenten überzeugen. »Na gut, nur für die Feierlichkeiten.« Dann gab sie dem Anwalt der Familie die Nummer des Kontos durch, auf das die Argumente überwiesen werden sollten.
»Was wird aus der Sache mit IKEA?« fragte Senyora Elisenda, als alles erledigt war.
»Mamà, du hast dich soeben zurückgezogen!«
»Nicht bis morgen nach der Seligsprechung.«
Marcel schüttelte den Kopf, verwundert über Mamàs Starrsinn, und erklärte ihr, daß Bedogni und Brusport fünfundvierzig Prozent von drei Tochtergesellschaften kaufen würden, weil man so indirekt ans
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