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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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diejenigen, die für Gott und Vaterland gefallen waren, und sah nach rechts, zum Grab des Lehrers hinüber.
    Der Grabstein des franquistischen Helden Oriol Fontelles Grau (1915-1944) mit dem Joch und den Pfeilen der Falange war weniger von Unkraut überwuchert als andere, offensichtlich erinnerte sich jemand an ihn. Tina bemerkte, daß die Hammerschläge verstummt waren und der Mann, der die Grabplatte bearbeitet hatte, auf sie zuschlurfte. Sie drehte sich halb herum und sah, daß er sich die Handschuhe ausgezogen hatte, um in einem völlig zerknautschten Päckchen nach einer Zigarette zu angeln.
    »Sind Sie mit dem da verwandt?« Er nickte zu Oriols Grab hinüber und verbarg seine Neugier und Unsicherheit, indem er sich die Zigarette anzündete.
    »Nein.«
    »Besser so.«
    »Warum?«
    Der Mann mit den blauen Augen sah sich wie hilfesuchend nach allen Seiten um. Er stieß den Rauch aus und zeigte dann knapp auf Oriols Grab.
    »Wir haben ihn hier nicht in besonders guter Erinnerung.« Er verbeugte sich leicht: »Ich bitte um Entschuldigung, schließlich war er mein Lehrer.«
    Er kniete nieder und strich mit der Hand, die die Zigarette hielt und von der jahrelangen Arbeit rissig war, über den Grabstein, wie jemand, der Staub von einem glänzend lackierten Möbelstück wischt: »Den Stein hat mein Vater gemacht.« Er deutete hinter sich, ohne sich umzudrehen: »Und das Mahnmal auch.«
    »Ihr Vater muß ihn gut gekannt haben.«
    »Er ist tot.« Er machte eine ausholende Handbewegung: »Die blaugrauen Grabsteine sind alle von mir. Sie sind moderner.«
    »Sicher sind im Laufe Ihres Lebens einige zusammengekommen.«
    »Mein Vater hat immer gesagt, alle Leute aus der Gemeinde landen früher oder später bei uns.« Trotz der Kälte hatte er die Handschuhe immer noch nicht angezogen.
    »Stimmt das denn?«
    »Und ich denke, daß die Worte, die wir auf die Grabsteine meißeln, die Lebensgeschichte eines Menschen zusammenfassen.«
    Der Mann hat recht, dachte Tina: Eine Grabinschrift ist eine kurzgefaßte Lebensgeschichte. José Oriol Fontelles Grau, 1915, 1944. Eine Geschichte mit Anfang und Ende und einem Knoten in der Mitte: dem kurzen Bindestrich zwischen den beiden Zahlen, der für ein ganzes Leben steht. Und wenn es, wie in diesem Fall, noch ein Epitaph gibt, so ist dies ein Resümee seines Werkes: Märtyrer und Faschist, der den Heldentod starb für Gott und Vaterland. Und die Gräber sind umgeben vom Staub und dem Unkraut des Vergessens.
    »Wieso ist sein Grab so gepflegt?«
    »Nun ja … Dorfgeschichten.«
    Der Mann mit den blauen Augen nahm einen weiteren tiefen Zug und deutete auf ein nahes Grab, an dessen rostiges Eisenkreuz mit einem halb verrotteten Strick gelbe und blaue Plastikblumen gebunden waren. Der Grabstein zeigte eine ein wenig kitschige Taube im Flug.
    »Joan Esplandiu Carmaniu«, las Tina.
    »Die Venturas. Hier im Dorf heißen sie nur die Venturas.«
    »Ich kenne sie.«
    »Hier liegen die Venturakinder, Joan und Roseta. Sehen Sie? Vom Vater dagegen hat man nie wieder was gesehen oder gehört.«
    »Vielleicht ist er in Frankreich gestorben?«
    »Vielleicht. Hier liegt er jedenfalls nicht.«
    »Roseta Esplandiu Carmaniu. Ihr Herz war rein und groß wie der Montsent«, las Tina. Sie schwieg einen Moment, weil sie denjenigen beneidete, der diese Worte erdacht hatte.
    »Roseta Ventura …« sagte der Mann und strich sich über die stoppelige Wange.
    »Woran ist sie gestorben?«
    »An Typhus.« Er verstummte, dann fuhr er fort: »Mit zwanzig.« Er schüttelte die Erinnerung ab: »Und Joan Ventureta.«
    »Und woran ist der gestorben?«
    »An einer Kugel.«
    Erst jetzt sah Tina die Worte, die unter dem Namen standen: Heimtückisch ermordet von den Faschisten.
    Jaume Serrallac hob die Augenbrauen: »Soviel Krieg und soviel Zorn, aber zuletzt landen sie alle hier, einer neben dem anderen. Seit über fünfzig Jahren liegen sie jetzt hier und werden wohl bis in alle Ewigkeit hier liegen. Mein Vater sagte immer, das ist, wie wenn man zusammen auf einem Foto ist: Ist man erst mal drauf, kann man sich nicht mehr wegwischen.«
    Tina trat näher an das Grab der Venturas heran. Auch wenn die Blumen aus Plastik waren, waren sie so verwittert, daß sie wie verwelkt wirkten. Die Einsamkeit der kleinen Venturas dauerte sie. Der Mann nahm einen tiefen Zug, der einen gewichtigen Satz ankündigte.
    »Eine böse Geschichte. Fast sechzig Jahre her, und die Wunde ist immer noch nicht verheilt.«
    Er schüttelte den Kopf und dachte

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