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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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weckst. Wenn ich dir sagen könnte, daß ich verwirrt bin, daß du magische Hände hast.
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    Bibiana brachte eine Kanne dampfenden Tee herein. Sie sah Elisenda in die Augen, diese wich ihrem Blick aus, und die Hausangestellte fand ihren Verdacht bestätigt. Sie zog sich diskret zurück. Oriol spürte die Verbundenheit zwischen den beiden Frauen, tat aber so, als nähme ihn eine Ärmelfalte in Anspruch.
    »Was macht dein Mann beruflich?« fragte er, als sie wieder allein waren.
    »Du interessierst dich sehr für meinen Mann.«
    »Nein, gar nicht. Ich will dich nur zum Sprechen bewegen.«
    Nun, hauptsächlich geht er Schmuggelgeschäften nach, gemeinsam mit zwei Obersten des Hafenamts in Barcelona und anderen Behörden. Und er treibt sich laut den Berichten meiner Informanten in Bordellen herum. Er verdient Geld wie Heu und haßt es, von Zeit zu Zeit hierherkommen zu müssen, weil er mir nicht in die Augen sehen kann.
    »Nun, er geht seinen Geschäften nach. Handel, ich weiß nicht genau, womit. Er hat ein Büro, das ihn den ganzen Tag auf Trab hält, ist immer unterwegs.«
    Sie will nicht darüber sprechen. Wechseln wir das Thema. Worüber könnten wir reden?
    »Würdest du nicht lieber in Barcelona leben als hier?«
    »Nein. Dies ist meine Heimat. Außerdem verwalte ich meine Ländereien gerne selbst. Und hier sind mein Vater und mein Bruder gestorben.«
    Und deine Mutter, Elisenda? Warum sprichst du nie über deine Mutter?
    Ein paar Pinselstriche am Hals, ein anderer Farbton. Der zarte Hals von Senyora Elisenda, die bereits Elisenda ist.
    »Haben Rosa die Pralinen geschmeckt?«
    Allein die Pralinenschachtel aus geschnitztem und lackiertem Holz war ein Kunstwerk. In ihr lagen zwölf Pralinen wie Juwelen. Rosa nahm sich eine smaragdgrüne.
    »Warum hast du fünfhundert gesagt?«
    »Ich habe mich nicht getraut …«
    »Wenn du tausend gesagt hättest, hätte sie die auch bezahlt. Du bist zu dumm.«
    Sie wickelte das Konfekt aus, unterdrückte ein Husten und biß in die Praline.
    »Köstlich«, sagte sie. »Da, probier mal.«
    Ja, sie war gut. Sehr gut.
    »Sie haben ihr sehr gut geschmeckt. Ich soll mich bedanken.«
    »Gern geschehen.«
    Dann erzählte Elisenda von Onkel August, von einem Buch, das er geschrieben hatte, über Ableitungen oder etwas in der Art, davon, wie berühmt er war, daß er vor den kommunistischen Horden nach Rom geflohen war und dort unterrichtet und sich einen Namen als intuitiver Mathematiker gemacht hatte. Das hatte der Bischof dem Pfarrer von Torena, Hochwürden Aureli Bagà, erzählt, da ihr Onkel zu Eigenlob unfähig war. Allerdings verschwieg sie dem Lehrer, daß Hochwürden August ihr immer wieder gesagt hatte, der Platz einer Frau sei an der Seite ihres Mannes, bis sie ihm kürzlich, der ständigen Anspielungen überdrüssig, entgegnet hatte: »Weißt du, was los ist? Wenn ich nach Barcelona fahre, um an Santiagos Seite zu sein, werde ich ihn mitten unter lauter Nutten finden. Also fang nie wieder davon an.«
    »Verzeih, mein Kind. Ich wußte nicht …«
    »Außerdem werde ich für immer hierbleiben. Ich bin die Herrin von Casa Gravat, ich verwalte die Einkünfte und mehre sie. Ich will, daß die Leute hier im Dorf zusehen, wie ich immer reicher werde.«
    »Deine Worte sind voller Haß. Du erinnerst mich an … Ach, lassen wir das.«
    »An wen erinnere ich dich, Onkel?«
    »An deinen Vater.«
    »Weil sie ihn getötet haben, habe ich soviel Wut in mir.«
    Mein Gott, Onkel August fühlte sich den dunklen Winkeln der menschlichen Natur nicht gewachsen. Wie rein,irrational und indiskutabel war doch die Zahl e. Aber als ehemaliger Tutor des Mädchens fühlte er sich verpflichtet zu sagen: »Ich weiß nicht, ob diese Gefühle richtig sind.«
    »Der Krieg hat meine Seele verhärtet.«
    »Du mußt lernen zu verzeihen.«
    Sie schwieg und dachte an die Lehren, die er selbst ihr erteilt hatte: über den wahren Sinn der Gerechtigkeit und der göttlichen Strafe, über die Feinde der katholischen Kirche, die sie als persönliche Feinde betrachten sollte, und über die Gewißheit, in der Wahrheit zu leben. Und mit Zustimmung von Mutter Venància hatte er ihr anhand von Büchern wie Der Geist der heiligen Teresa von Ávila , Himmlische Seiten , Die vorbildliche Familie und Heilmittel und vorbeugende Maßnahmen gegen die Krankheiten der Seele die Geheimnisse des Lebens erklärt. Sie alle stammten aus der Feder des ehrwürdigen Enric d’Ossó, des Gründers des

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