Die Stimmen des Flusses
über den Paß von Salau gebracht. Und später … Im Haus hatte er das Gefühl zu ersticken, der Joan.«
»Siehst du?« sagte Cèlia mütterlich. »Besser, wir fangen gar nicht erst davon an.«
»Ich hab ihm gesagt, er hätte von den Faschisten gar nicht so viel zu befürchten, aber er wollte lieber in die Berge.«
»Wenn sie von Vater spricht … hinterher hat sie immer Fieber.«
»Und er hatte recht, der Joan. Sie haben ihn nämlich doch gesucht … Der verfluchte Bastard, der Targa von den Roias …«
»Mama …«
Die alte Ventura sprach lauter, um ihre Tochter zu übertönen: »Wie hab ich mich gefreut, als ich gehört hab, daß er sich seinen Schädel an der Mauer an der Landstraße eingeschlagen hat.«
»Das ist schon lange her«, erklärte Cèlia Ventura. »Vielleicht fünfzig Jahre.«
Die alte Ventura war in ihre Gedanken versunken. Cèlia schlürfte ihren Kaffee und ließ sie in Ruhe. Sie wußte, daß ihre Mutter daran dachte, wie vor dem Abendessen vier Uniformierte das Haus der Venturas betreten hatten, ohne anzuklopfen, während ein fünfter von weitem ängstlich oder widerwillig zusah, wie sie Joanet, den Ältesten, der damals vierzehn war, gepackt hatten, wie sie ihn vor den entsetzten Augen seiner kleinen Schwestern an die Wand gedrückt und gefragt hatten: »Wo ist dein Vater, der Mistkerl?«
»Laßt ihn in Ruhe. Er weiß nichts.«
Glòria Carmaniu, genannt die Ventura, hatte den Raum betreten. Ruhig lud sie die Holzscheite, die sie trug, neben der Feuerstelle ab. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und zeigte auf den dampfenden Eintopf auf dem Tisch: »Bedienen Sie sich«, sagte sie furchtlos. Valentí Targa ließ den Hals des Jungen los und trat auf sie zu.
»Aber du weißt es.«
»Nein. In Frankreich, nehme ich an.« Sie sah den Haufen Männer herausfordernd und verächtlich an: »Wißt ihr, wo Frankreich liegt?« Sie wies auf den fünften Mann, der keine Uniform trug und mit angewidertem Gesichtsausdruck an der Tür stehengeblieben war: »Der Lehrer soll’s euch erklären.«
Noch nie in ihrem harten Schulalltag hatten die kleinen Venturas erlebt, daß ein Mensch, von einer wohlgezielten Ohrfeige getroffen, durch den ganzen Raum flog. Ihre Mutter schlug gegen die Kommode, auf der Jahre später der Fernseher mit den Skispringern stehen würde, und fiel zu Boden. Blut rann über ihre Wange. Valentí, dessen Hand noch glühte,sagte bedrohlich leise: »Ich weiß, daß du ihn siehst, und deshalb kannst du ihm sagen, er soll ins Rathaus kommen und sich stellen.«
Die Frau rappelte sich auf, blind vor Tränen.
»Ich seh ihn nicht. Ich weiß nicht, wo er ist. Ich schwör’s.«
»Vierundzwanzig Stunden. Wenn er nicht bis morgen neun Uhr abends im Rathaus auftaucht, ist der hier an seiner Stelle dran.«
Er gab seinen Männern ein Zeichen. Der mit den dunklen Locken fesselte Joanet die Hände auf dem Rücken, und der Junge biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien, so viel Angst hatte er. Sie nahmen ihn mit. An diesem Abend rührte niemand den Eintopf an.
Die verrostete Eisentür stand offen, von innen dröhnten Hammerschläge. Tina betrachtete den schneegrauen Himmel; er sah aus, als könne er jederzeit wieder seine eisige Last über sie ausschütten. Tatsächlich war es jetzt noch kälter als am frühen Morgen, als sie an die Tür der Venturas geklopft hatte, und sie dachte, daß sie sich nie an diese bösartige Kälte würde gewöhnen können, die einen bis ins Mark traf.
In der Mitte verlief ein ungepflasterter Pfad, der zu dem Mahnmal führte, das sie wenige Tage zuvor fotografiert hatte. Es war kein sehr großes Mahnmal. Jemand hatte die Inschrift entfernt; zur Linken und im Hintergrund lagen die Reihen der Erdgräber, zwischen denen nur wenig Unkraut wucherte. Der gepflegteste Friedhof in der ganzen Region Pallars. In der Gräberreihe zur Rechten bearbeitete Jaume Serrallac mit Hammer, Meißel und finsterer Miene die Platte eines Nischengrabs, die zu groß geraten war und links überstand. Er hatte vergessen, die Säge mitzubringen, und war nun zu bequem, hinunterzufahren und sie zu holen. Er verfluchte Cesc, denn es war schon das zweite Mal, daß der es beim Abmessen nicht allzu genau genommen hatte und er den Schaden wiedergutmachen mußte. Während er zum x-tenmal die Inschrift auf der zu groß geratenen Grabplatte las,entdeckte er die junge Frau. Sie war so eingemummt, daß zwischen Schal und Kapuze nur die Nase hervorlugte, stand vor dem alten Mahnmal für
Weitere Kostenlose Bücher