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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Stille der Kaffeetasse.
    »Ein Heuchler und Verräter, der unsere Familie ins Unglück gestürzt hat. Und das ganze Dorf. Mach den Fernseher aus, Kind.«
    »Was ist aus der Frau des Lehrers geworden?«
    Cèlia stand auf und befolgte wortlos die Anweisung. Hinter Tina verschwand ein finnischer Skispringer von der Bildfläche, als er gerade einen neuen Rekord aufstellen wollte. Die alte Ventura überlegte: »Ich weiß es nicht. Sie ist gegangen.«
    »An die erinnere mich überhaupt nicht«, sagte die Tochter und setzte sich wieder.
    »In all den Jahren mußten wir immer einen gewaltigen Umweg machen, um zum Bäcker zu gelangen.«
    »Niemand aus diesem Hause hat diese Straße betreten.« Leise fügte sie hinzu: »Im Andenken an meinen Bruder.«
    Tinas Herz machte einen Sprung, aber sie beherrschte sich und entschied sich für eine harmlose Frage: »Und was haben die Leute dazu gesagt?«
    »Es gab noch andere, die sie nie betreten haben.« Die Alte nahm die Tasse ihrer Tochter mit zitternder Hand, wie um zu trinken, sog jedoch nur den Duft ein. Cèlia nahm sie ihr ab, bevor sie herunterfallen konnte, und stellte sie wieder zurück. Die alte Ventura hatte es gar nicht bemerkt. »Ramona von den Feliçós ist gestorben, bevor sie den Namen geändert haben, die Arme.«
    »Und die anderen Leute?«
    »Die Burés, die Majals, die Narcís, die Batallas …« Sie unterbrach ihre Aufzählung, um nachzudenken. Dannbetrachtete sie die Kaffeetasse und fuhr fort: »… die Savinas, die Birulés … und Casa Gravat natürlich.«
    »Was?«
    »Die waren alle zufrieden. Das waren Faschisten, die waren froh, als die Nationalen einmarschiert sind. Und Cecilia Báscones vom Tabakladen, die alte Hexe, hat vor ihrer Tür Cara al sol gesungen …«
    Sie mußte Atem schöpfen, dann fuhr sie fort: »Denen allen war es schon recht, daß es eine Straße gab, die nach dem Falangisten Fontelles benannt war.«
    Sie verstummte, und die beiden Frauen respektierten ihr Schweigen. Tina ahnte, daß all diese Namen mit Feuer in das Gedächtnis der alten Ventura eingebrannt waren.
    »Und die anderen?« wagte sie schließlich zu fragen.
    »Die haben den Mund gehalten.« Sie sah Tina an: »In diesem Dorf haben immer alle den Mund gehalten. Und viele haben ihr Mäntelchen nach dem Wind gehängt …«
    »Mama …«
    »Ich sage nur, wie’s ist. Die Straße nach jemandem benennen, der gemeldet hat, was er meine Kinder im Klassenzimmer hat reden hören …« Sie sah ins Unbestimmte, als zweifle sie, ob sie weitersprechen solle. »Natürlich wäre es schlimmer gewesen, wenn sie eine Straße nach Targa benannt hätten.«
    Ihre Tochter wandte sich leise, fast entschuldigend, an Tina: »Das ist jetzt fast sechzig Jahre her, aber es geht uns einfach nicht aus dem Kopf.« Sie lächelte verhalten. »Kaum zu glauben, was?«
    »Wie war das mit der Meldung?«
    »Meine Schwester und ich hatten Angst, weil es hieß, unser Vater würde gesucht und sie wollten ihn umbringen, und wir haben darüber gesprochen, und …«
    »Und der Lehrer, dieses Schwein, hat sie gehört«, unterbrach die Alte, »und ist zum Bürgermeister gelaufen und hat ihm gesagt, Herr Bürgermeister, der Ventura versteckt sich in seinem Haus, ich hab gehört, wie es die beiden Mädchen gesagt haben, die sind fünf und zehn und wissen vor Angstnicht, was sie reden. Und nachdem er das getan hat, hat er wohl noch gedacht, wir anständigen Leute halten ihn für einen Menschen und nicht für ein Ungeheuer.« Sie starrte die Wand an.
    »Und dann ist all das passiert, was passiert ist.«
    Die alte Frau holte tief Luft, stieß den Stock auf den Boden und wiederholte: »Ich hab’s ja gesagt, viele haben ihr Mäntelchen nach dem Wind gehängt.«
    »Mama, die Frau könnte denken …«
    »Warum ist sie gekommen? Sie wollte es doch nicht anders.«
    Mutter und Tochter sprachen völlig ungehemmt, so, als wäre Tina nicht dabei. Cèlia sagte schroff, um die Diskussion zu beenden: »Mama, du weißt doch, wie es dir hinterher geht.«
    »Meinen Mann hab ich nicht wiedergesehen.« Anklagend wandte sie sich an Tina: »Da können die Leute reden, was sie wollen. Wir hatten uns getrennt. Als er beschlossen hat, in die Berge zu gehen, hab ich ihm gesagt, ich bleib bei den Mädchen und Joanet, mir können sie nichts tun. Aber er hatte keine Ruhe. Er war …«
    Sie verstummte, versunken in Erinnerungen, schöne oder unerfreuliche, das wußte Tina nicht.
    »Immer hatte er Hummeln im Hintern. Als er jung war, hat er Schmuggelware

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