Die Stimmen des Flusses
Santiago muß die ganze Woche über dort sein. Monat für Monat, das ganze Jahr hindurch.«
»Natürlich.«
»Sag du zu mir.« Sie wußte, was sie da sagte, fühlte, wie sie ins Gleiten geriet, eine endlose Halde hinab, aber es war ein lustvolles Gleiten.
»Wie bitte?«
»Wenn du eine Pause brauchst, lasse ich uns Tee bringen.«
Mein Gott, dieses Bild bringt mich noch um. Ich muß das Ganze anders angehen, mit mehr … Ich weiß nicht.
»Und du warst nicht an der Front?«
»Nein. Der Magen …«
»Da ist dir einiges erspart geblieben. Gefällt dir die Arbeit in der Schule?«
»Ja, aber fragen Sie mich nicht so viel. Erzählen lieber Sie.«
»Was soll ich dir erzählen, Oriol?«
Die Brillanten versprühten Funken, obwohl sie vollkommen still saß. Oder waren es ihre Augen?
6
Die Frau, die ihr die Tür öffnete, fragte nicht, wer sie sei oder was sie wolle, sondern sah sie nur stumm an, den Türgriff in der Hand. Die Falten in ihrem Gesicht erzählten die verschlungene Geschichte eines ungebeugten, etwa siebzigjährigen Lebens. Ihre Augen musterten Tina durchdringend, und diese fühlte sich unbehaglich. Sie fragte: »Sind Sie die Ventura?«
»Ja.«
»Die alte Ventura?«
»Schon wieder eine Journalistin?«
»Nein, ich …« Sie wollte die Kamera verbergen, aber es war zu spät. Sie merkte sehr wohl, daß sich die Hand am Türknauf vor Ungeduld verkrampfte, aber das Gesicht der Frau blieb ausdruckslos.
»Vor drei Monaten ist sie fünfundneunzig geworden. Wir dachten, die Feierlichkeiten und Ehrungen sind jetzt vorbei.«
»Ich komme aus einem anderem Grund.«
»Weswegen?«
»Wegen des Krieges.«
Bevor sie es verhindern konnte, hatte die Frau die Tür zugeschlagen, und Tina Bros stand mit dummem Gesichtsausdruck davor, mit der Enttäuschung des Jägers, der über eine Wurzel stolpert und das Wild verscheucht. Sie blickte die Straße auf und ab. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und niemand war zu sehen. Sie dachte, ich wünschte, ich hätte die Gabe, die Menschen zu überzeugen, doch während sie noch überlegte, ob sie die Straße hinauf- oder hinuntergehen oder sich ins Café setzen und warten solle, öffnete sich die Tür erneut, und die barsche Frau, die sie zum Teufelgejagt hatte, forderte sie mit einer knappen Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete, zum Eintreten auf.
Sie hatte erwartet, eine bettlägerige, von der Last der Jahre und des Kummers gebeugte Greisin vorzufinden. Aber als sie die ärmliche Wohnküche der Venturas betrat, stand eine dunkel gekleidete Frau mit schütterem weißem Haar vor ihr, auf einen Stock gestützt. Ihr Blick war vom Haß und Schweigen vieler Jahre ebenso durchdringend wie der ihrer Tochter.
»Was wollen Sie mir über den Krieg erzählen?«
Der Raum war klein. Die offene Feuerstelle zum Kochen und Heizen war noch vorhanden. Unter dem Fenster stand sauber und ordentlich der Ascheimer. An der hinteren Wand ein Regal mit dem Alltagsgeschirr. In der Mitte ein mit einem gelben Wachstuch bedeckter Tisch, in der Ecke ein Gasherd. An der anderen Wand ein kleiner Fernseher, in dem nordische Skiläufer von einer hohen Schanze gewaltige Sprünge vollführten – der Ton war abgestellt –, und darüber ein Spitzendeckchen mit Postkarten, Tina konnte nicht erkennen, woher.
»Ich wollte nicht … Ich wollte, daß Sie mir erzählen … Ich habe Ihre Bemerkungen in der Zeitschrift gelesen und …«
»Und nun wollen Sie wissen, warum ich dreiunddreißig Jahre lang nicht durch die Hauptstraße gegangen bin.«
»Genau.«
Mit einer ähnlich herrischen Handbewegung wie die Tochter bedeutete die alte Frau ihr, sich zu setzen.
»Vielleicht möchte die Dame einen Kaffee, Cèlia.«
»Nein, nein, für mich …«
»Mach ihr einen Kaffee.« An Tina gewandt, erklärte sie: »Ich trinke keinen Kaffee, aber ich mag den Duft.«
Drei Minuten später schlürften Tina und Cèlia Ventura starken schwarzen Kaffee, und die alte Ventura sah ihnen interessiert zu. Tina hatte sich fest vorgenommen, nicht zu drängen, und wartete darauf, daß die alte Frau sich entschloß zu reden. Es dauerte lang, sehr lang, aber schließlich sagtedie alte Ventura: »Sie haben die Straße umbenannt in Calle Falangista Fontelles.«
»Und wer war der Falangist Fontelles?«
»Ein Lehrer, den wir nach dem Krieg im Dorf hatten. Oriol Fontelles.«
»Ich hatte ihn als Lehrer«, warf Cèlia ein. »Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern, ich war ja noch so klein.« Sie verkroch sich wieder hinter der
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