Die Stimmen des Flusses
unbekannter, klapperiger Wagen unter der Laterne. Ein Mann, den niemand zuvor gesehen hatte, stieg aus, öffnete eine Tür und ließ ein Bündel zu Boden fallen. Ächzend setzte sich das Auto in Richtung Tal in Bewegung. Obwohl das Bündel unter der Laterne lag, war es nur schwer zu erkennen, bis Rosa leise sagte: »Sie haben ihn umgebracht, sie haben ein Kind umgebracht.« Sie legte die Hand auf ihren Bauch, und Oriol ging zu ihr hinüber und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter, aber sie schüttelte sie ab und zischte: »Faß mich nicht an!« Unten auf dem Platz kniete die Ventura im schummerigen Lampenlicht, strich verzweifelt über die Einschußlöcher im Schädel und in der rechten Augenhöhle ihres Sohnes und verstand, daß das Unglück in ihr Haus eingekehrt war und sie nie mehr verlassen würde. Talitha kumi, dachte Oriol. Talithakumi, bitte, talitha kumi, und in seinem Inneren vertrieb eine verzweifelte, erstaunte Wut allmählich die Angst.
Senyora Elisendas Wagen begegnete dem unbekannten Wagen, der den Hang hinabraste, unterwegs zu einer anderen Arbeit oder vielleicht zu einem wohlverdienten Cognac. Als Jacinto vor Casa Gravat hielt, war es gerade fünf Minuten her, daß die Familie Ventura den Körper vom dunklen, kalten Platz hatte tragen lassen. Alles sah aus wie immer, aber die Stille klang anders, drohend, als ob das gesamte Dorf dem dumpfen Rauschen des Pamano lauschte, und so beschloß Elisenda, im Rathaus vorbeizusehen und sich zu erkundigen, was es mit dieser Stille auf sich hatte.
Senyor Valentí Targa saß, eingehüllt in dieses Schweigen, in untadeliger Uniform mit drei oder vier ebenfalls uniformierten Unbekannten zusammen und trank. Als er Elisenda erblickte, sagte er: »Kameraden, geht schon mal rüber in den Sitzungssaal, ich komme gleich nach.« Mit dem Glas in der Hand zogen die Kameraden in den Nebenraum um, wo nur Staub und ausrangierte Möbel zu finden waren, und Elisenda fragte mit zornsprühenden Augen: »Was ist passiert oder wird gleich passieren?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete Valentí.
»Habt ihr Ventura geschnappt?«
»Nein.«
»Was hast du gemacht?«
»Für Gerechtigkeit gesorgt.«
Elisenda stand vor ihm und sagte ruhig: »Ich weiß nicht, was du gegen Ventura hast, aber ich versichere dir, er ist nicht Teil deiner Arbeit.«
»Was weißt du schon.« Valentís Blick war leicht getrübt vom Cognac, mit dem er sich schützte.
»Hast du den Jungen umgebracht?«
Statt einer Antwort trank Valentí das Glas in einem Zug leer und schnalzte mit der Zunge. Da sagte ihm Senyora Elisenda Vilabrú: »Von jetzt an werden die Dinge zwischen dir und mir ein wenig anders laufen. Ich mag diesen Stil nicht,und ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, daß ich mein Wort gegeben habe, es würde nichts passieren, und du mir versichert hast, es würde auch nichts passieren, du wolltest dem Dorf nur eine Lektion erteilen. Und jetzt stellt sich heraus, daß die Lektion darin besteht, daß du Kinder umbringst.«
»Na, na, na: ein Kind. Nur eins.«
»Das ist bestimmt der traurigste Grabstein, den ich je gemacht hab. Neunzehnhundertneunundzwanzig Bindestrich neunzehnhundertdreiundvierzig, das sind vierzehn Jahre. Er wäre bald fünfzehn geworden. Gott wird dem Mörder niemals verzeihen. Und du, mein Sohn, denk immer an ihn, und wenn einmal bessere Tage kommen und ich dann schon tot bin, machst du dem Ventureta einen neuen Grabstein. Und wenn die Geschäfte auch noch so schlecht gehen sollten, laß dir nicht einfallen, von den Venturas auch nur einen Duro zu nehmen. Es werden bessere Tage kommen, und die Menschen werden lächeln, und dann wird man ungestraft den richtigen Namen der Leute auf den Grabstein meißeln dürfen, Jaumet. Und dann holst du die Zeichnung hervor, die ich dir jetzt machen werde.«
»Und jetzt können wir nichts anderes hinschreiben?«
»Nur Familie Esplandiu. Sie wollen sonst nichts. Sie lassen sie nichts anderes draufschreiben. Sieh mal, hier ist der schriftliche Befehl. Nicht mal den Namen von Joanet, selbst wenn wir ihn auf spanisch schreiben würden. Nur die Familie. Und das Kreuz.«
»Und für den echten Grabstein?«
»Sieh mal, was ich mir ausgedacht habe.«
»Mensch, ein echtes Kreuz, wie es sich gehört.«
»Natürlich. Das hat er verdient.«
»Weißt du, was du machen kannst,Vater? Du könntest es noch verzieren. Der Bürgermeister, wenn er bis dahin noch nicht gestorben ist, wird es gar nicht bemerken. Zum Beispiel so:
»Sehr
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