Die Stimmen des Flusses
Schiwago, der es sich auf dem Computer bequem gemacht hatte und von dort selbstvergessen die beinahe frühlingshafte, von Licht und Vorfreude durchflutete Landschaft hinter dem Fenster betrachtete. Was wohl Arnau gerade tut? Ob er die Hände faltet, die Augen verdreht und betet, wie wir es ihn nie gelehrt haben?Vielleicht singt er auch. Oder er verflucht sich selbst dafür, daß er sich in eine Hölle begeben hat, aus der er nicht so leicht wird entrinnen können. Oder nichts dergleichen. Wie ich ihn vermisse. Dann dachte sie anJordi und mußte sich eingestehen, daß sie das gleiche getan hätte wie Rosa, hätte sie deren Mut besessen.
Mit zitternden Händen schob Oriol den Brief in den eingerissenen Umschlag zurück. Er war kurz davor, die Ofenklappe zu öffnen und ihn zu verbrennen, doch dann überlegte er es sich anders und steckte ihn in die Tasche. Er tat ihm zu weh. In der Schultoilette, die wie immer kalt und von einem ätzenden Gestank erfüllt war, betrachtete er sich fünf Minuten lang im angelaufenen Spiegel und versuchte, eine Situation zu verstehen, aus der er nicht klug wurde. Vierzehn Tage war es nun her, daß Rosa gegangen war. Sie hatte Venturetas Tod nicht verwunden. Sie hatte nicht ertragen, daß alle Welt ihren Mann für Valentí Targas rechten Arm hielt, für seine graue Eminenz. Sie hatte nicht ertragen, daß die Leute erzählten, der Lehrer mißbrauche die Kinder auf abscheuliche Weise, indem er sie dazu brachte, ihre Eltern zu verraten. In der Pause ging er zu ihnen und sprach so sanft und freundlich, so falsch mit ihnen, daß sie ihm alles erzählten, was er wollte. Er hatte sogar herausgefunden, wer sich bei den Llovís versteckt hielt. Und den Kindern konnte man keinen Vorwurf machen, den armen Seelen, die waren vor Angst halbtot. Und Rosa hatte auch nicht ertragen, daß zwei Tage hintereinander Marçana von der Bäckerei das Brot gerade dann ausgegangen war, wenn sie in den Laden kam. Das Brot und der Gesprächsstoff. Die Frauen im Laden verstummten, oder ihnen fiel ein, daß sie es eilig hatten, und sie ließen sie stehen, eine lächerliche Figur in diesem beschaulichen Torena im Vall d’Àssua, in der Nähe von Sort im Regierungsbezirk Pallars Sobirà, mit drei- bis vierhundert Einwohnern (plus einundzwanzig roten, separatistischen Verrätern, die es vorgezogen hatten, ins Exil zu gehen, und dreiunddreißig Toten während des Kreuzzugs gegen den Marxismus, von denen zwei als Helden gestorben waren: der junge Josep Vilabrú und sein Vater Anselm Vilabrú, dem die halbe Gemeinde gehört hatte und der mit seinem Sohn vierzehn Tage nach der Erhebung der Faschisten von einemTrupp Anarchisten an die Wand gestellt worden war). Und obwohl hier besonders viel Roggen, Gerste und Weizen für den Eigenbedarf angebaut wurden, gab es kein Brot mehr, wenn Rosa einkaufen ging. Es würde für sie keines mehr geben. Auch deshalb verließ sie das Dorf. Und vielleicht auch wegen der zärtlichen Blicke, die Senyora Elisenda von Casa Gravat ihrem Mann zuwarf.
»Er will mir tausend zahlen.«
»Und wenn er dir eine Million zahlt. Du kannst ihn nicht porträtieren!«
»Warum nicht?«
»Er ist ein Mörder.«
»Jetzt müssen wir uns ducken. Irgendwann einmal werden wir wieder den Kopf heben können.«
»Sich ducken ist eine Sache, etwas anderes ist … Widert dich das nicht an?«
Von Sant Pere klang die Totenglocke herüber. Rosa erstarrte, rührte sich aber nicht vom Fleck. Oriol stellte das Milchglas auf den Tisch, zeigte auf Rosas Bauch und flüsterte eindringlich: »Ich will nicht, daß sie uns umbringen wie diesen Jungen.«
»Feigling.«
»Ja. Ich habe Angst zu sterben.«
»Wenn du drüber nachdenkst, wirst du merken, daß der Tod nicht so schlimm ist, wie du glaubst.«
Oriol antwortete nicht, und Rosa stand auf und ging hinaus. Nach einer Weile vernahm Oriol aus dem Schlafzimmer unterdrücktes Schluchzen. Er schob die Milch beiseite, als ekelte sie ihn, starrte ins Leere und versank in Grübelei. Er wünschte sich von Herzen, anders zu sein. Plötzlich hob er den Kopf: Rosa kam aus dem Schlafzimmer, sie trug ein schlichtes dunkles Kleid.
»Wo willst du noch hin?«
»Zur Beerdigung.«
»Es wäre klüger …«
»Du kannst ja inzwischen deinen Herrn und Meister malen.«
»Ich muß nach Sort zur Lehrerkonferenz«, sagte er gekränkt. Aber sie war schon hinausgegangen, ohne seine Antwort abzuwarten. In diesem Moment wußte Oriol noch nicht, daß er nie wieder mit ihr sprechen würde.
Rosa
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