Die Stimmen des Flusses
zu folgen, so habe er die Ehre, ihnen den Weg zu zeigen. Das ist der Augenblick, in dem der Botschafter sagt, wie schnell doch die Zeit vergeht, wenn man sich wünscht, dieser glorreiche Tag möge das ganze Leben dauern.
Die alte Dame antwortet ihm nicht, weil ihr plötzlich die Aufregung den Atem verschlägt. Sie erhebt sich, um die Verwirrung zu verbergen, die sie beim Eintritt des höflichen, gemessenen Dieners ergriffen hat, und wartet darauf, daß ihre Familie sie eskortiert und ihr Sohn ihren Arm nimmt. Sie wirkt so majestätisch, daß der Botschafter endlich einsieht, daß sie die einzig wahre Autorität in diesem Raum ist.
Die Gruppe um Hochwürden Rella betritt die Basilika. Der Pfarrer erklärt Senyor Guardans, daß der Glaube an die Unfehlbarkeit des Pontifex Maximus bei der Kanonisierung eines Heiligen nicht unumstritten ist. Der heilige Thomas sagt, wir müssen fest daran glauben, daß die Unfehlbarkeit das päpstliche Dekret zur Kanonisierung unterstützt, und die Mehrzahl der Theologen teilt diese Ansicht. Aber im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß die Gewißheit dieser Unfehlbarkeit theologischer Glaube ist; sie steht nicht in der Heiligen Schrift, ist daher kein göttlicher Glaube und ist nicht von der Kirche festgelegt, also auch kein kirchlicher Glaube.
20
Um sich nicht ganz so einsam zu fühlen, beschloß er, seine wenigen Habseligkeiten ins Schulgebäude zu bringen. Er richtete sich die Materialkammer her, karg, fast mönchisch, denn für ihn hatte die Zeit der Buße für seine Feigheit begonnen. Eine Pritsche in einer Ecke, ein wurmstichiger Schrank und ein altes Pult, das er als Arbeitstisch benutzte, waren alles, was er hatte. Wenn er einen Stuhl brauchte, mußte er seinen aus dem Klassenzimmer holen, nur an Kälte hatte er mehr als genug. Und als er sich eingerichtet hatte, war er trotzdem nicht zufrieden, denn er mußte unablässig an Rosa denken, und er ging jeden Tag zum Mittagessen zu Marés, und zum Kaffee trank er mit Valentí schweigend ein Glas Anisschnaps, und die Leute ließen sie am Tisch der Autoritäten allein, und während sie beide dort saßen, waren alle Gespräche verstummt, und alle schielten zu ihnen herüber und hatten es eilig, das Lokal zu verlassen. Eines Tages sagte ihm Valentí, das mit seiner Frau tue ihm sehr leid. Statt einer Antwort leerte Oriol seinen Anisschnaps und starrte auf den Tisch. Um ihn aufzumuntern, sagte Valentí: »Ich habe gehört, daß sich die Armee aus dieser Gegend in Richtung Aragonien zurückzieht.«
»Trotz der Anschläge?«
»Seit dieser Geschichte ist hier alles ruhig geblieben, auch wenn in Frankreich die Dinge für das sieggewohnte Reich nicht allzu gut stehen.«
Oriol sagte nichts. Denken strengte ihn zu sehr an.
Am selben Nachmittag klopfte Cassià von den Mauris von Ignasis Maria, der einzige der Familie, der sich frei bewegen durfte, weil er nicht ganz richtig im Kopf war (sein Bruder Josep war auf der Flucht, und Felisa lebte, verbittertund verstummt in ihrem Kummer, allein bei den Großeltern, verbohrten alten Republikanern) an die Scheibe des Klassenzimmers und bedeutete Oriol, er habe einen Brief für ihn. Die Großen waren noch mit der Liste der Zuflüsse beschäftigt – die Karte der Iberischen Halbinsel hing an der Tafel –, und die Kleinen schrieben ab. Oriol ging hinaus, nahm klopfenden Herzens den Brief in Empfang und kehrte ins Klassenzimmer zurück. Der Umschlag war in Barcelona abgestempelt und trug keinen Absender, aber er erkannte Rosas Handschrift. Am liebsten hätte er ihn gleich gelesen, aber er steckte ihn in die Tasche, tat so, als dächte er nicht weiter daran, und fragte Ricard von den Llatas, in welchen Fluß der Alagón mündete.
Erst als alle Kinder weg waren, kam er dazu, den Brief zu öffnen. Er setzte sich an den Ofen und riß nervös den Umschlag auf. Im Heft hatte Oriol diesen halb zerrissenen Umschlag aufbewahrt, dazu die wenigen Zeilen, die Tina unzählige Male gelesen hatte: »Oriol, ich muß Dir wohl mitteilen, daß Du eine Tochter hast. Sie ist wohlauf. Ich werde sie niemals zu Dir bringen, weil ich nicht will, daß sie erfährt, daß ihr Vater ein Faschist und ein Feigling ist. Versuch nicht, mich ausfindig zu machen oder ausfindig machen zu lassen: Ich bin nicht bei Deiner Tante, meine Tochter und ich kommen schon alleine zurecht. Mein Husten ist weg, bestimmt hast Du mich krank gemacht. Auf Nimmerwiedersehen.«
Wie grausam, dachte Tina. Sie warf einen zerstreuten Blick auf Dr.
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