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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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daß sich die Heiligkeit eines Märtyrers an seinem Heldentum im Tod mißt.«
    »Entschuldigen Sie, aber ich bin nicht hier, um mit Ihnen über Theologie zu diskutieren, sondern um Oriols Verwandte aufzuspüren.«
    »Es gibt keine mehr.«
    »Diese Seligsprechung ist eine Farce. Oriol Fontelles hat ein anderes Andenken verdient.«
    Senyora Elisenda legte ihre Hand auf die Brust, als ob sie dort etwas suche, und stand auf. Sie war hager, blind und vom Alter gezeichnet, und doch hatte sie etwas so Respekteinflößendes, daß Tina klein beigab.

19
    Elvira Lluís’ Husten kam von der Schwindsucht. Oriol wußte nicht, ob sie für die anderen Kinder ansteckend war, aber ihm war klar, daß es zu grausam gewesen wäre, ihren Eltern zu sagen, bringt sie nicht mehr her, sie soll zu Hause sterben. Und so durfte sie weiterhin in der Schule neben dem Ofen sitzen und husten. Elviras Husten war das einzige, was im Klassenzimmer zu hören war. Oriol betrachtete die Schüler. Drei von ihnen fehlten: Miquel von den Birulés hatte Angina, und Cèlia und Roseta Esplandiu von den Venturas waren auch nicht da. Als sie das Vaterunser gebetet und die Kinder sich gesetzt hatten, vermieden es alle, zu den leeren Pulten von Venturetas Schwestern hinüberzusehen, und starrten ihn an. Und nun hörte er nur Elviras Husten, und die schweigenden, prüfenden Blicke der Kinder taten ihm weh. Mit den Großen mußte er die Flüsse Spaniens (Miño, Duero, Tajo, Guadiana, Guadalquivir, Ebro, Júcar und Segura) und die wichtigsten Nebenflüsse (Sil, Pisuerga, Esla, Tormes, Alagón, Alberche, Genil, Gállego und Segre) durchnehmen, die Jüngeren sollten Schönschreiben üben, aber statt dessen sah er sich diesen kleinen, schweigenden Blicken ausgesetzt. Alle Schüler dachten an die leeren Pulte der Venturetas, die nicht da waren, weil ihr Bruder nicht da war, weil sein Vater nicht da war – aber der Herr Lehrer war dagewesen, als sie am Vorabend Joan Ventureta von zu Hause weggeholt hatten, das wußte das ganze Dorf. Nein, eine Falangeuniform hat er nicht angehabt, aber er ist dabeigewesen; er war bedrückt, aber unternommen hat er nichts; mitleidig hat er ausgesehen – und was nutzt uns das Mitleid des Lehrers? Er ist ein Faschist wie die anderen. Nicht so laut. Es macht mich so wütend, daß wir es nicht mal anzeigen können. Haltdich bloß raus. Und red um Himmels willen nicht im Café drüber.
    Den ganzen Tag über herrschte tiefe Stille. Alle Dorfbewohner fragten sich, was Bürgermeister Targa wohl tun würde, wenn Ventura sich nicht stellte, was sehr wahrscheinlich war. Natürlich würde er das Kind nicht umbringen, das war ja unmöglich; aber was dann? Würde er zulassen, daß die altbekannten Leute sich zu Hause ins Fäustchen lachten, weil Ventura nicht gekommen war? Wollt ihr etwa die Gesetzlosigkeit der Anarchisten wiederhaben? Vielleicht kommt Ventura ja doch. Und so wußte man alles und nichts, und die Nachricht wurde verbreitet, damit auch Ventura erfuhr, daß vier Tage vor Weihnachten sein Sohn auf Befehl des Herodes verhaftet worden war. Jedermann war überzeugt, daßVentura sich auf den Weg machen würde, immer dem Stern nach, um sich in die Hände Valentí Targas zu begeben, der aus Altron kam wie er, aber jetzt Bürgermeister von Torena war. Er würde kommen, um das Leben seines Sohnes Joan Ventureta zu retten, dem sie gerade sagten, »Es ist Mittag, und dein Vater rührt sich nicht. Du weißt, was das heißt, oder? Das heißt, du kannst schon mal anfangen zu beten«, und Ventureta bat um eine Zigarette, bitte, nur eine, denn er mußte sich ablenken, um sich nicht in die Hosen zu machen vor Angst. »Hast du keinen Hunger,Ventureta?« Und als die Kinder nachmittags nach Hause gingen, heute, am letzten Schultag, waren sie stiller als sonst und traurig, denn die Weihnachtsferien begannen, und die Angst um Ventureta schnürte ihnen die Kehle zu. Die Nachzügler unter den Schulkindern sahen noch, wie Mutter Ventura zum viertenmal ins Rathaus ging, um den Bürgermeister um das Leben ihres Sohnes zu bitten. Mit gesenktem Kopf stand sie vor ihm, »Nehmt mich, aber laßt den Jungen laufen«, und Valentí Targa erwiderte verächtlich: »Ich bin ein Kavalier und nehme keine Frauen gefangen; du brauchst erst wiederzukommen, wenn du Neuigkeiten über deinen Mann hast. Ich weiß aus sicherer Quelle, daß er manchmal heimlich zu euch kommt.«
    »Ach ja?« fragte die Ventura abfällig. »Und wer hat dir diese Lüge erzählt? Irgendein Schuft, der mir

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