Die Stimmen des Flusses
diese Zeilen liest. Ich liebe Dich, mein Kind. Sag Deiner Mutter, daß ich auch sie liebe. Wie sehr wünsche ich mir, das alles wäre vorüber und ich könnte zu euch kommen, auf die Knie fallen und Dir erzählen, wie alles war! Und wenn das nicht sein kann, bleiben wenigstens diese Hefte, der längste Brief, den Dir jemals jemand geschr
Tina starrte erstaunt auf dieses abrupte Ende. Wie eine sorgfältige Wissenschaftlerin tippte sie ab »der längste Brief, den dir jemals jemand geschr«. Sie war erschöpft. Während sie das Abgetippte ausdruckte, versuchte sie, sich Rosa vorzustellen, die im Brief kaum vorkam und die den Mut gehabt hatte, sich aufzulehnen. Sie hatte kein Foto von ihr, kannte nur ein augen- und lippenloses Gesicht am Ende dieser Hefte. Und die tiefe Verachtung, die aus der kurzen Notiz sprach, in der sie ihrem Mann mitteilte, er sei nicht länger ihr Mann und er werde ihre Tochter nie zu sehen bekommen. Sie malte sich aus, wie diese Verachtung ausgesehen haben mochte, wie sie geklungen hatte, und verglich sie mit der Verachtung, die sie jetzt für Jordi empfand.
»Juri Andrejewitsch, verschwinde, geh mir nicht auf die Nerven.«
Auf dem letzten Blatt stand, fein säuberlich auf dem Laserdrucker ausgedruckt: Und wenn das nicht sein kann, bleiben wenigstens diese Hefte, der längste Brief, den dir jemals jemand geschr
Oriol war gerade dabei, diese Zeilen zu schreiben – es war Abend, und er saß allein an seinem Schreibpult –, als plötzlich die Tür aufging und der Lockenkopf eintrat, ohne um Erlaubnis zu fragen, wie er es von den Führern der Falange gelernt hatte, die den Raum eroberten, der ihnen nach göttlichem Recht zustand, und sagte: »Senyor Valentí sagt, Sie sollen sofort ins Rathaus kommen.« Oriol schob den unterbrochenen Brief zwischen die Hefte der Schüler und dachte, wie unvorsichtig es von ihm war, sein Leben und das der Maquisards in Reichweite des Feindes aufzubewahren.
Befehl ist Befehl, und Oriol mußte unter den spöttischen Blicken des lockenköpfigen Falangisten die Schule abschließen, die Jacke überziehen und zum Rathaus gehen, ohne das Heft hinter der Tafel verstecken zu können. Jetzt wird er mir gleich sagen, wir ermitteln schon seit zehn Tagen und haben herausgefunden, daß du der Schweinehund bist, der nicht richtig zielen kann.
»Wir ermitteln schon seit zehn Tagen in einem Fall«, sagte Valentí, kaum daß Oriol das Büro betreten hatte. Oriol schwieg, und seine Seele zog sich vor Angst zusammen. Senyor Valentí zeigte auf die Staffelei, die in der Ecke stand und mit einem farbfleckigen Tuch abgedeckt war. »Heute habe ich einen Augenblick Zeit«, fuhr er fort, ohne zu fragen, ob er Zeit oder Lust hatte.
Es war ihre erste Sitzung nach dem gescheiterten Attentat. Es war das erste Mal, daß er mit Valentí allein war, seit die Zuckerpuppe ihm in die Augen gesehen hatte, während er – wie er glaubte – dem Bürgermeister von Torena einen Genickschuß versetzte. Valentí nahm mit militärischer Disziplin dierichtige Pose ein, und Oriol war anfangs unruhig und fand nicht den richtigen Braunton für den Tisch.
»Was für ein Fall?« hörte er sich fragen. »Was untersuchen Sie denn?«
»Alles mögliche«, sagte Valentí. Er drehte sich eine Zigarette, ohne um Erlaubnis zu fragen. »Kennst du einen gewissen Eliot?«
»Nein.« Er deutete auf die Zigarette: »Nehmen Sie sie bitte aus dem Mund.«
Valentí tat einen Zug und legte die Zigarette gehorsam in den Aschenbecher. Eine hypnotische Rauchspirale schlängelte sich zur dunklen Decke des Büros empor.
»Du bist neugierig, was?«
»Ich?«
Er mußte tief Luft holen, denn das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Sie wissen nichts. Kaum zu glauben, aber sie wissen nicht, daß ich es war. Zehn Tage lang hatte er gezittert und gebangt; er war in den Dienst des Maquis getreten, unter dem strikten Befehl, nicht zu fliehen, weil Valentí und seine Männer angeblich nichts wußten. Anscheinend stimmte es: Sie hatten keine Ahnung. Leutnant Marcó hatte recht.
Er malte die Vorderseite des Tisches, damit seine Hand ruhiger wurde und sich an die Pinselstriche gewöhnte. Als er sich ein wenig gefaßt hatte, nahm er einen anderen Pinsel und machte sich an die Augenbrauen. Sie waren buschig, schon leicht ergraut und gingen beinahe nahtlos ineinander über.
»Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«
Jetzt war sein Herz kurz davor, aus der Brust zu springen.
»Nicht bewegen, bitte«, sagte er.
»Ich weiß etwas, was die in
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