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Die Stimmen von Marrakesch

Die Stimmen von Marrakesch

Titel: Die Stimmen von Marrakesch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Canetti
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gekommen ist nachzugeben, muß es unerwartet und plötzlich geschehen, damit der Gegner in Unordnung gerät und einem Gelegenheit bietet, in ihn hineinzusehen. Manche entwaffnen einen durch Hochmut, andere durch Charme. Jeder Zauber ist erlaubt, ein Nachlassen der Aufmerksamkeit ist unvorstellbar.
    In Läden, die so groß sind, daß man eintreten und umhergehen kann, pflegt der Verkäufer sich gern mit einem zweiten zu beraten, bevor er nachgibt. Der zweite, der unbeteiligt im Hintergrund steht, und eine Art geistliches Oberhaupt über Preise, tritt zwar in Erscheinung, aber er feilscht selbst nicht. Man wendet sich an ihn nur, um letzte Entscheidungen einzuholen. Er kann, sozusagen gegen den Willen des Verkäufers, phantastische Schwankungen im Preis genehmigen. Aber da
er
es tut, der selbst nicht mitgefeilscht hat, hat sich niemand etwas vergeben.

DIE RUFE DER BLINDEN
    Ich versuche, etwas zu berichten, und sobald ich verstumme, merke ich, daß ich noch gar nichts gesagt habe. Eine wunderbar leuchtende, schwerflüssige Substanz bleibt in mir zurück und spottet der Worte. Ist es die Sprache, die ich dort nicht verstand, und die sich nun allmählich in mir übersetzen muß? Da waren Ereignisse, Bilder, Laute, deren Sinn erst in einem
entsteht;
die durch Worte weder aufgenommen noch beschnitten wurden; die jenseits von Worten, tiefer und mehrdeutiger sind als diese.
    Ich träume von einem Mann, der die Sprachen der Erde verlernt, bis er in keinem Lande mehr versteht, was gesagt wird.
    Was ist in der Sprache? Was verdeckt sie? Was nimmt sie einem weg? Ich habe während der Wochen, die ich in Marokko verbrachte, weder Arabisch noch eine der Berbersprachen zu erlernen versucht. Ich wollte nichts von der Kraft der fremdartigen Rufe verlieren. Ich wollte von den Lauten so betroffen werden, wie es an ihnen selber liegt, und nichts durch unzulängliches und künstliches Wissen abschwächen. Ich hatte nichts über das Land gelesen. Seine Sitten waren mir so fremd wie seine Menschen. Das Wenige, das einem im Lauf eines Lebens über jedes Land und jedes Volk zugeflogen kommt, fiel ab in den ersten Stunden.
    Aber es blieb das Wort › Allah‹, um dieses kam ich nicht herum. Damit war ich für den Teil meiner Erfahrung ausgestattet, der am häufigsten und eindringlichsten, am nachhaltigsten war, für die Blinden. Auf Reisen nimmt man alles hin, die Empörung bleibt zu Haus. Man schaut, man hört, man ist über das Furchtbarste begeistert, weil es neu ist. Gute Reisende sind herzlos.
    Als ich voriges Jahr, nach fünfzehnjähriger Abwesenheit, mich Wien näherte, fuhr ich durch
Blindenmarkt,
einen Ort, von dessen Existenz ich früher nie etwas geahnt hatte. Der Name traf mich wie eine Peitsche, er hat mich seither nicht verlassen. Dieses Jahr, als ich nach Marrakesch kam, fand ich mich plötzlich unter den Blinden. Es waren Hunderte, Unzählige, die meisten Bettler, eine Gruppe von ihnen, manchmal acht, manchmal zehn, stand dicht beisammen in einer Reihe am Markt und ihr rauher, ewig wiederholter Spruch war weithin hörbar. Ich stellte mich vor sie hin, reglos wie sie, und war nie ganz sicher, ob sie meine Gegenwart fühlten. Jeder von ihnen hielt eine hölzerne Almosenschale vor sich hin, und wenn man in eine von diesen etwas warf, ging die gespendete Münze von Hand zu Hand, jeder fühlte, jeder prüfte sie, bis einer, dessen Amt es war, sie schließlich in die Tasche steckte. Man
fühlte
zusammen, wie man zusammen murmelte und rief.
    Alle Blinden bieten einem den Namen Gottes an, und man kann sich durch Almosen ein Anrecht auf ihn erwerben. Sie beginnen mit Gott, sie enden mit Gott, sie wiederholen seinen Namen zehntausendmal am Tage. Alle ihre Rufe enthalten seinen Namen in abgewandelter Form, aber der Ruf, auf den sie sich einmal festgelegt haben, bleibt immer derselbe. Es sind akustische Arabesken um Gott, aber wieviel eindrucksvoller als optische. Manche vertrauen auf seinen Namen allein und rufen nichts als diesen. Es ist ein schrecklicher Trotz darin, Gott kam mir wie eine Mauer vor, die sie an immer derselben Stelle berennen. Ich glaube, die Bettler halten sich mehr durch ihre Formeln als durch das Erbettelte am Leben.
    Die Wiederholung desselben Rufes charakterisiert den Rufer. Man prägt ihn sich ein, man kennt ihn, er ist nun für immer da; er ist es in einer scharf umgrenzten Eigenschaft, eben seinem Ruf. Man wird nicht mehr von ihm erfahren, er schützt sich, der Ruf ist auch seine Grenze. An diesem Ort ist er

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