Die Stimmen von Marrakesch
streckte die Rechte mit den ausgespreizten Fingern ein wenig mehr nach vorn und sagte mit heiserer Stimme seinen Spruch her. Ich ging etwas scheu auf ihn zu und legte ihm ein Zwanzigfrancstück auf die Hand. Die Finger blieben gestreckt; er konnte sie wirklich nicht schließen. Er hob langsam die Hand und führte sie an den Mund. Er drückte die Münze gegen die wulstigen Lippen und ließ sie in den Mund verschwinden. Kaum war sie drin, begann er wieder zu kauen. Er schob die Münze im Mund hin und her, mir kam vor, als könne ich ihren Bewegungen folgen, bald war sie links, bald war sie rechts und er kaute wieder so ausführlich wie zuvor.
Ich staunte und zweifelte. Ich fragte mich, ob ich mich nicht irre. Vielleicht war die Münze inzwischen irgendwo andershin verschwunden und ich hatte es nicht bemerkt. Ich wartete wieder ab. Nachdem er mit demselben Genuß gekaut hatte und zu Ende war, erschien die Münze zwischen seinen Lippen. Er spuckte sie in die linke Hand, die er gehoben hatte. Sehr viel Speichel floß mit. Dann ließ er die Münze in eine Tasche verschwinden, die er auf der linken Seite trug.
Ich versuchte, meinen Ekel vor diesem Vorgang in seiner Fremdartigkeit aufzulösen. Was gibt es, das schmutziger wäre als Geld. Aber dieser alte Mann war nicht ich, was mir Ekel bereitete, war ihm ein Genuß, und hatte ich nicht manchmal Menschen gesehen, die Münzen küßten? Der viele Speichel hatte hier sicher einen besonderen Zweck und es war klar, daß er sich von anderen Bettlern durch eine reichliche Erzeugung von Speichel auszeichnete. Er hatte es lange geübt, bevor er um ein Almosen bat; was immer er zuvor gegessen hatte, - kein andrer hätte so lange dazu gebraucht. In den Bewegungen seines Mundes war irgendein Sinn.
Oder hatte er nur
meine
Münze in den Mund genommen? Hatte er auf der Handfläche gespürt, daß sie höher war, als was er gewöhnlich bekam, und wollte er sich dafür besonders bedanken? Ich wartete ab, was weiter geschah und es fiel mir nicht schwer zu warten. Ich war verwirrt und fasziniert und hätte außer dem alten Mann ganz gewiß nichts anderes sehen können. Er wiederholte einige Male seinen Spruch. Ein Araber kam vorbei und legte ihm ein Fünffrancstück auf die Hand. Er führte es, ohne zu zögern, an den Mund, steckte es hinein und begann genau wie zuvor zu kauen. Vielleicht kaute er diesmal nicht ganz so lang. Er spuckte die Münze wieder mit viel Speichel aus und ließ sie in der Tasche verschwinden. Er bekam andere Münzen, ganz kleine darunter, derselbe Vorgang wiederholte sich einige Male. Ich wurde immer ratloser; je länger ich zusah, um so weniger begriff ich, warum er das tat. Aber an einem war nicht mehr zu zweifeln, er tat es immer, es war seine Sitte, seine besondere Art zu betteln und die Menschen, die ihm etwas gaben, erwarteten von ihm die Anteilnahme seines Mundes, der mir jedesmal, wenn er ihn öffnete, röter erschien. Ich bemerkte nicht, daß man auch mir zusah, und ich muß einen lächerlichen Anblick geboten haben. vielleicht, wer weiß, staunte ich gar mit offenem Mund. Denn plötzlich kam ein Mann hinter seinen Orangen hervor, machte ein paar Schritte auf mich zu und sagte beschwichtigend: »Das ist ein Marabu.« Ich wußte, daß Marabus heilige Männer sind und daß man ihnen besondere Kräfte zuschreibt. Das Wort löste Scheu in mir aus und ich fühlte, wie mein Ekel gleich geringer wurde. Ich fragte schüchtern: »Aber warum steckt er die Münze in seinen Mund?« »Das macht er immer«, sagte der Mann, als wäre es die gewöhnlichste Sache von der Welt. Er wandte sich von mir ab und stellte sich wieder hinter seine Orangen. Ich bemerkte erst jetzt, daß hinter jeder Bude zwei oder drei Augenpaare auf mich gerichtet waren. Das erstaunliche Geschöpf war ich, der ich so lange nicht begriff.
Ich fühlte mich mit dieser Auskunft verabschiedet und blieb nicht mehr lange. Der Marabu, sagte ich mir, ist ein heiliger Mann, und an diesem heiligen Mann ist alles heilig, selbst sein Speichel. Indem er die Münzen der Geber mit seinem Speichel in Berührung bringt, erteilt er ihnen einen besonderen Segen und erhöht so das Verdienst, das sie sich durch das Spenden von Almosen im Himmel erwerben. Er war des Paradieses sicher, und er hatte selbst etwas zu vergeben, das den Menschen viel notwendiger war als ihre Münzen ihm.
Ich begriff nun die Heiterkeit, die auf seinem blinden Antlitz lag und die ihn von den anderen Bettlern unterschied, die ich bisher gesehen
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