Die Straße nach Eden - The Other Eden
verlor. Manchmal frage ich mich, ob sie sich überhaupt noch daran erinnert, dass sie einmal einen hatte.«
»Sie und Tascha haben also nichts mehr auf der Welt als einander«, sinnierte Mary.
Alexander blickte auf und schüttelte den Kopf. »Das mag einmal so gewesen sein, aber jetzt sind wir dabei, uns in diesem Land ein neues Leben aufzubauen, hier Wurzeln zu schlagen. Sie brauchen kein Mitleid mit uns zu haben.« Er lächelte. »Wir sind weit davon entfernt, verlorene Seelen zu sein.«
»Das ist mir völlig klar.« Mary gab das Lächeln zurück. Schweigend tranken wir unseren Kaffee aus. Dann bat sie plötzlich: »Alexander, wollen Sie nicht etwas für uns spielen?«
»Wir würden uns sehr freuen«, schloss ich mich an.
Er warf mir einen Blick zu. »Ich spiele, wenn Sie es auch tun. Immerhin haben Sie mich schon gehört, ich aber nur von Ihnen.«
Wir riefen Tascha wieder nach unten und gingen in das Musikzimmer hinüber, wo eines der Mädchen bereits die Lampen entzündet hatte. Alexander willigte ein, als Erster zu spielen - auf Marys Bitte hin etwas von Schubert. Er spielte ein Impromptu und den vierten der ›Moments Musicaux‹ so ergreifend schön, dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben davor fürchtete, mich selbst an das Klavier setzen zu müssen.
»Ich weiß nicht, was ich spielen soll«, murmelte ich. Die Worte waren kaum heraus, da begriff ich auch schon, wie lächerlich sie klangen.
»Sagten Sie nicht, Sie würden an Chopins Etüden arbeiten?«, half mir Alexander weiter.
»O nein, bitte nicht!«
»Dann spielen Sie doch einfach Ihr Lieblingsstück.«
Ich überlegte kurz, dann krümmten sich meine Lippen zu einem leisen Lächeln. Als meine Finger über die Tasten zu fliegen begannen, fielen alle anderen in das Lächeln mit ein.
»›Children’s Corner‹!«, rief Tascha, als ich den ersten Teil beendet hatte, und klatschte aufgeregt in die Hände. »Ach bitte, spiel doch noch den Rest!«
Als das Stück zu Ende war, wandte sich Alexander an mich. »Kommen Sie, wollen Sie nicht doch noch eine der Etüden für uns spielen?«
Ich seufzte tief. »An welche haben Sie denn gedacht?«
»An die vierte aus Opus 10.«
»Ich fürchte, gerade die beherrsche ich nicht besonders gut.«
»Nun … die letzte aus Opus 25 hat mir auch immer sehr gut gefallen.«
Also begann ich zu spielen, obgleich ich mir meiner Schwächen peinlich bewusst war.
»Wunderschön«, lobte Mary danach.
»Leider nicht halb so schön, wie sie eigentlich klingen sollte.«
Alexander betrachtete mich nachdenklich.
»Sie sagten, Sie komponieren auch«, lenkte ich rasch ab, ehe er mich um ein weiteres Stück bitten konnte.
»Ein wenig, so nebenbei«, erwiderte er, doch der Blick, den er mir zuwarf, besagte deutlich, dass er mein Ablenkungsmanöver durchschaute.
»Dann spielen Sie uns doch eine Ihrer Kompositionen vor«, bat Mary, bevor ich es tun musste.
Er erhob sich seufzend und nahm wieder auf der Bank Platz, ehe ich Zeit hatte, mich zu besinnen, spielte er das Stück aus meinem Traum. Ich konnte es jetzt genauso wenig einordnen wie zuvor. In ihm vereinten sich die Motive einer Etüde, die Wiederholungen und Variationen einer Nocturne und der sanfte Fluss einer Serenade. Mary lauschte verträumt, Tascha beobachtete ihren Onkel aufmerksam. Einige der Hausmädchen drängten sich an der Tür, um zuzuhören. Doch meine eigenen Gedanken wanderten von Etüden zu verlassenen Häusern, und ich merkte erst, dass Alexander aufgehört hatte zu spielen, als Marys Bitte um ein weiteres Stück die Stille zerriss.
»Wie wäre es mit der Ballade? Opus 23?«
Alexander und ich blickten gleichzeitig zu ihr auf. Er lächelte, aber nicht rasch genug, um den Anflug von Kummer zu verbergen, der über sein Gesicht huschte. Ich registrierte, wie Tascha seine Reaktion auf die für sie charakteristische stille, wissende Weise in sich aufnahm, und ich begriff, warum Mary sie für ein so ungewöhnliches Kind hielt.
»Verzeihen Sie, wenn ich Ihrer Bitte ein andermal entspreche.« Alexander erhob sich. »Die Ballade erfordert mehr Konzentration, als ich heute Abend noch aufbringen kann.«
»Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss«, wehrte
Mary ab. »Ich hatte ganz vergessen, was für eine lange Reise hinter Ihnen liegt. Sie müssen todmüde sein, und wir haben Sie so lange aufgehalten.«
»Aber nein, es war mir ein Vergnügen. Aber du, Nataschenka…«, sein Blick traf die gähnende Tascha, »…du gehörst ins Bett. Sag Mrs Bishop
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