Die Straße nach Eden - The Other Eden
Westeuropa durchgeschlagen hatten.
»Das muss ja furchtbar sein«, meinte Mary mitfühlend. »Besonders für die Kleine. Mit ansehen zu müssen, wie ihr Heim und ihre Familie auf so grausame Weise zerstört werden und dann auch noch alles zurückzulassen, woran ihr Herz hängt!«
Wir sahen alle zu Tascha hinüber, die aber offenbar von unserer Unterhaltung nichts mitbekam, sondern glücklich in dem schmelzenden Eis in ihrer Schale herumrührte.
»Ich glaube, es war nicht so schlimm, wie es hätte sein können«, entgegnete Alexander bedächtig. »Sie war knapp vier, als wir aus Russland flohen. Sie dürfte sich an nicht allzu viel erinnern.«
»Aber das arme Kind … ihre Mutter…«
»Es ist nicht so, wie Sie denken«, unterbrach er sie scharf. Als er Marys verdutztes Gesicht sah, entschuldigte er sich rasch: »Ich habe es nicht so gemeint. Es ist nur so … es ist eine ziemlich unerfreuliche Geschichte.« Er rang einen Moment um Fassung, dann fuhr er fort: »Nataljas Vater war mein älterer Bruder. In seinen mittleren Jahren heiratete er eine junge Frau, die leider außer ihrer Schönheit nicht viel zu bieten hatte.« Seine Züge verhärteten sich. »Anja war ein dummes, oberflächliches Gänschen, das erst wenige Jahre zuvor die Schule verlassen hatte. Natalja war ihr einziges Kind, sie starb im Kindbett. Mein Bruder versank in tiefer Verzweiflung, und Tascha blieb der Obhut von Kinderfrauen überlassen.«
Er brach ab und sah zu dem Mädchen hinüber. Sie starrte mit leicht geöffneten Lippen gedankenverloren in das geschmolzene Eis. »Was hältst du davon, wenn du noch ein bisschen mit dem Puppenhaus spielst, Tascha?«, schlug er ihr vor.
»O ja«, stimmte sie zu und rutschte von ihrem Stuhl.
»Weißt du noch, in welchem Zimmer es steht?«, fragte ich.
»Im rechten am Ende der Treppe.«
Mary lächelte ihr zu, und Tascha verschwand.
»Sie sollte diese Dinge nicht hören«, sagte Alexander, ohne uns anzusehen. Dann fuhr er fort: »Niemand hat daran geglaubt, dass sie ihren ersten Geburtstag überlebt. Das arme Kind war mager und kränklich, so etwas wie Liebe erfuhr sie während ihres ersten Lebensjahres gar nicht. Ihr Vater schenkte ihr keinerlei Beachtung; er lehnte sie ab, weil sie seiner Meinung nach ihre Mutter auf dem Gewissen hatte. Der Rest unserer Familie bestand nur noch aus meinem jüngeren Bruder, einem politischen Fanatiker, und einer verbitterten blinden Großtante.
Ich gab zu dieser Zeit viele Konzerte und war selten zu Hause, ich hatte Wichtigeres zu tun, als mich um eine kränkelnde Nichte zu kümmern. Dann hörte ich eines Tages zufällig, wie sich Taschas Ärzte über sie unterhielten. Der eine sagte zu seinem Kollegen, er werde meinem Bruder raten, sie in eine Anstalt zu stecken, da sie wahrscheinlich ohnehin nicht mehr lange leben würde, und wenn doch, würde sie mit Sicherheit geistig oder körperlich behindert bleiben. Ich empfand seine Worte als extrem grausam und machte mich sofort auf den Weg zum Kinderzimmer, um mich selbst davon zu überzeugen, ob sie der Wahrheit entsprachen.« Er lächelte. »Ich fand ein vollkommen normales, nur für sein Alter zu kleines Kind vor. Tascha wurde gut versorgt, aber ihr Gesicht war mürrisch und verkniffen. Sie begann zu schreien, als ich sie auf den Arm nahm, und strampelte mit den Beinen, als wäre es ihr lieber, ich würde sie fallen lassen. Doch da hatte ich bereits tiefes Mitleid mit ihr. Ich trug sie aus dem Zimmer, ohne auf die Proteste der Ärzte und Kinderfrauen zu achten, die sagten, sie würde nur wieder krank werden, und brachte sie zu dem einzigen
Ort, der ihr vielleicht helfen würde, weil auch ich dort immer Trost gefunden hatte.«
»Dem Musikzimmer!«, entfuhr es mir.
Alexander nickte. »Ich weiß noch, dass sie immer noch brüllte, als ich sie auf den Teppich setzte und zu spielen begann. Beethoven.« Er lachte. »Ich dachte, die Musik dieser verdüsterten Seele müsste sie eigentlich fesseln, und das tat sie. Sie hörte auf zu weinen, ihr Gesicht erhellte sich vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, und ich sah, dass sie tatsächlich ein sehr hübsches Mädchen war. Von da an ließ ich sie nie wieder von meiner Seite. Ich ließ ihr Kinderzimmer neben mein Zimmer verlegen und nahm sie überall hin mit, wo ich hinging, egal wohin. Für ein Kind war dies vermutlich ein äußerst ungewöhnliches und vielleicht sogar unpassendes Leben. Aber sie hatte bereits begonnen, in mir ihren Vater zu sehen, bevor sie ihren eigenen
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