Die Straße nach Eden - The Other Eden
waren.«
Ich starrte ihn einen Moment lang entgeistert an, während eine Vielzahl widersprüchlicher Gefühle und Gedanken
in mir tobte. Die stärkste Empfindung war die Wiederkehr der Furcht, die scheinbar nur er in mir auszulösen vermochte. Endlich stieß ich hervor: »Sie sind also doch hellseherisch veranlagt!«
Er zuckte die Achseln. »Nicht dass ich wüsste. Aber ich muss Ihnen gestehen, dass ich denselben Traum hatte wie Sie.« In seiner Stimme schwang keinerlei Gemütsbewegung mit, sein Gesicht blieb unbewegt. Ich wartete darauf, dass er zu lachen begann oder irgendwie die ungeheuerlichen Worte zurücknahm, die ihm soeben über die Lippen gekommen waren.
Als ich endlich einsehen musste, dass er weder das eine noch das andere tun würde, konnte ich nur stammeln: »Was … was hat das zu bedeuten?«
»Ich wünschte, ich wüsste es.« Er sah mich an, und in diesem Augenblick veränderte sich etwas zwischen uns. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, war die Maske, hinter der er seine Gefühle verbarg, von ihm abgefallen. Seine Augen verrieten mir, dass er ebenso erschüttert und verwirrt war wie ich, und das trug mehr als alle Worte dazu bei, die seltsame Kluft zwischen uns zu überbrücken. Was ich für die milde Nachsichtigkeit eines älteren Mannes gegenüber einem jungen Mädchen gehalten hatte, war offenbar nur seine Art, eine weit tiefer reichende Gefühlsregung unter Kontrolle zu halten, die nichts mit mir zu tun hatte.
Er seufzte. »Jetzt ist es also an mir, vollkommen aufrichtig zu sein«, sagte er so zögernd, als fiele es ihm schwerer als erwartet, in einer fremden Sprache die richtigen Worte zu finden; ich argwöhnte aber, dass es eher das Thema als die Sprache war, womit er zu kämpfen hatte.
»Als ich diesen Traum zum ersten Mal hatte, wusste ich noch gar nicht, dass Sie tatsächlich existieren«, fuhr er fort. »In meinem Traum waren Sie ganz von Licht umgeben. Ich hatte verschieden geartete Träume von Ihnen, aber
das Lichtelement war ihnen allen gemein: Sie strahlten immer einen unirdischen Glanz aus, manchmal nur schwach, manchmal so gleißend, dass ich nicht hinschauen konnte. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, bis ich Ihren Namen erfuhr. Der Name Eleanor leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet ›Licht‹.«
Er hielt einen Moment inne, dann fuhr er in einem weit weniger grüblerischen Ton fort: »Sie können sich sicher vorstellen, wie mir zumute war, als ich Sie an jenem Abend im Konzertsaal sah. Ja, es stimmt, ich habe Sie gesehen. Nur einen Augenblick lang, Sie wollten ja gerade gehen, aber ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, was in mir vorging, als ich Sie dort stehen und in meine Richtung blicken sah und ich wusste, dass Sie ein Mensch aus Fleisch und Blut sind. Und als ich hierherkam und sowohl Sie als auch das Haus hier vorfand, kam ich mir vor, als wäre ich zu etwas zurückgekehrt, was ich einst sehr gut gekannt habe. In gewisser Hinsicht kannte ich Sie und das Haus ja schon aus meinen Träumen. Aber Sie müssen wissen, dass ich auch Angst hatte.«
»Wovor?«, fragte ich leise.
»Nicht vor Ihnen, Eleanor, nur vor der Tatsache, dass es Sie wirklich gibt. Denn wenn es Sie gibt, musste es den anderen auch geben.«
»Welchen anderen?«
Die Muskeln um seinen Mund hatten sich verhärtet, lie ßen ihn fast grausam erscheinen. »Haben Sie andere Träume von diesem Mann gehabt? Dem Mann, der neben Eve in dem Teich lag?«
»Warum wollen Sie das wissen?«, erkundigte ich mich neugierig.
Als Alexander mich ansah, lag ein fast flehender Ausdruck in seinen Augen, den ich nie zuvor dort gesehen hatte. »Kennen Sie ihn?«
»Nein.«
Er zögerte. Seine Kiefernmuskeln spannten sich erneut an. Dann fragte er weiter. »Hatte Ihre Tante einen Geliebten?«
Die Frage schockierte mich weniger, weil sie so plötzlich kam, sondern wegen ihrer Unverblümtheit. »Nicht dass ich wüsste«, erwiderte ich nach kurzer Überlegung. »Es sei denn, für Sie fällt ein Junge, für den sie mit sechzehn geschwärmt hat, unter diese Bezeichnung - ein Verwandter der Besitzer einer Nachbarplantage. Außerdem würde ich eher glauben, dass sie den Mann in dem Traum gehasst hat, falls Sie das meinen.«
»Wieso sind Sie eigentlich so sicher, dass das Gesicht im Traum das von Eve war? Könnte es nicht genauso gut Ihre Mutter gewesen sein?«
Ich hob die Schultern. »Vermutlich bin ich davon ausgegangen, dass es Eves war, weil ich immer nur von ihr und nie von meiner Mutter geträumt
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