Die Strasse ohne Ende
Wassers stand, warm, voller Spinnen und Läuse. Dieses Wasser trank er heimlich, gierig, wie ein Tier schlürfend. Er verjagte die Spinnen und leckte mit der heißen Zunge über die feuchten Steine, und es war ihm, als durchränne das schmutzige Wasser ihn wie ein Elixier der Kraft. Dann war er zurückgekrochen und hatte in dieser Nacht tief geschlafen.
Jetzt, am vierten Tag, bemerkte er neue Schmerzen. Nicht mehr das Fieber durchrüttelte ihn, sondern ein bohrender Schmerz im Leib ließ ihn sich auf dem Sattel zusammenkrümmen. Er biß sich auf die Lippen, aber er schwieg. Er ließ das Kamel weitertrotten und beantwortete Dr. Handricks Fragen mit einem Kopfschütteln.
Der Leib brannte. Die Kehle wurde rauh. Oft hatte er das Gefühl, erbrechen zu müssen. Dann sah er zurück und blickte auf das Mädchen, das mit geschlossenen Augen im Arm Dr. Handricks lag. Weiter, dachte er dann. Ich muß sie retten. Was wird, wenn ich und Ferrai nicht mehr können?
Auch der vierte Tag ging vorbei.
Als der Abend kam und es kühler wurde, fiel Dr. Sievert aus dem Sattel und lag regungslos im Sand.
Dr. Handrick schwankte zu ihm, beugte sich über ihn und fühlte seinen Puls und seine Stirn. Entsetzt sah er in die Augen des Ohnmächtigen und schnallte von seinem Kamel die kleine Tasche los, die er immer bei sich getragen hatte. Er nahm eine kleine Spritze heraus, setzte die Nadel ein und staute das Blut im Arm Dr. Sieverts, indem er mit seinem Gürtel die Schlagader abband. Dann stieß er die Nadel in die Vene; er mußte viermal stoßen, bis er die dicke, lederne Haut durchdrungen hatte, und zog ein wenig Blut aus der Ader.
Mit zitternden Fingern trug er die Spritze zu dem Kamel, tropfte ein bißchen auf ein Glas und schob es unter das kleine Taschenmikroskop. Er brauchte nicht lange zu suchen; er erkannte es jetzt schon, und seine Augen wurden weit vor Grauen.
Die Ruhr. Die Amöbenruhr! Und das unbekannte Virus, das das Blut zersetzt!
Ferrai kniete bei seinem Herrn und wusch ihm mit dem letzten Wasser aus dem Sack das Gesicht. Er stammelte arabische Kosenamen und küßte das verzerrte, menschenunähnlich gewordene Gesicht mit einer Liebe, die erschütterte.
Langsam trat Dr. Handrick zu dem Sterbenden und betrachtete ihn.
»Was hat er, Herr?« stammelte der Junge.
»Er wird sterben, Ferrai.«
»Und du kannst ihn nicht retten, Herr?«
»Nein!« schrie Dr. Handrick plötzlich hell. Die Erkenntnis seiner Ohnmacht trieb ihn zur Verzweiflung. Er mußte schreien, er mußte Luft bekommen. Er beugte sich zu Dr. Sievert und strich ihm über die eingefallenen Augen.
»Du bist doch ein Hakim, Herr«, sagte der Junge leise.
»Ich bin ein elender Versager«, schrie Dr. Handrick und schlug sich an die Stirn. »Ich bin ein Stümper, ein erbärmlicher, kleiner, dummer Nichtskönner!« Er kniete neben Dr. Sievert nieder und spritzte ihm Iatren ein, eine Spritze nach der anderen; er verspritzte seinen ganzen Vorrat und warf dann die Spritze weit weg in den Sand. »Nie mehr!« schrie er dabei. »Nie mehr!« Dann saß er still bei dem Sterbenden.
Auch Hilde saß daneben; sie hatte bis jetzt unter einer Decke gelegen und geschlafen. »Er stirbt«, sagte sie leise.
»Ja, Hilde.«
»An Durst?«
»Nein, an der verdammten unbekannten Ruhr! Und ich kann ihm nicht helfen.«
Die Nacht kam. Ferrai entzündete aus trockenem Kamelmist ein Feuer. Es beleuchtete den Sterbenden und den Arzt, der hilflos neben ihm saß, an seiner Seite das schluchzende Mädchen.
Dr. Sievert bäumte sich auf. Er sagte etwas; es war Arabisch, und Ferrai nickte, wandte sich gegen Mekka und betete leise die Suren des Todes. Dr. Handrick fühlte wieder den Puls. Er war kaum noch zu ertasten; die Brust hob sich beim Atmen flach und mühsam.
Noch einmal öffnete Dr. Sievert die Augen. Er suchte etwas, man sah es an dem Blick; dann erkannte er Dr. Handrick und nickte. Es war ein Abschied, ein letztes stummes Wort, dann zog ein Schleier über Dr. Sieverts Augen, der Schleier, hinter dem ein neues, weites, glücklicheres Land beginnt.
Behutsam drückte Dr. Handrick ihm die Lider herab und faltete ihm die Hände auf der Brust. Dann stand er auf und holte seine Decke. Ein greller Schrei ließ ihn herumfahren.
Hilde lag über der Leiche und krallte beide Hände in die Brust des Toten. Da wollte er sie zurückreißen, aber sie trat um sich und umfing den Toten mit der Kraft höchster Verzweiflung. Auf dem Boden, neben Dr. Sievert, lag ein Packen Papiere, die Hilde aus der
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