Die Strasse ohne Ende
Tasche genommen haben mußte. Ganz oben lag ein kleines Buch, ein einfaches Notizbuch, auf dessen erster Seite stand: »Eigentum von Dr. Hans Sievert.«
Starr, unbeweglich stand Dr. Handrick, das Büchlein in der Hand. Hilde küßte das Gesicht des Toten. Sie tastete die Lippen mit den Fingern ab, die Augen, die Wangen, den Hals, sie rief seinen Namen, und ihr »Hans! Hans!« klang schauerlich durch die stille Wüste. Sie setzte sich, nahm den Kopf des Toten in den Schoß und streichelte ihn, immer und immer wieder. Da wandte Dr. Handrick sich ab, ging zu seinem Kamel, legte sich hinter ihm in den Sand und drückte beide Hände gegen die Ohren, um dieses Jammern, dieses Schluchzen und diesen Ruf in das Nichts, dieses »Hans!« nicht mehr zu hören.
Am Morgen war das Grab fertig, ein tiefes Loch im Sand der Sahara, in das man Dr. Sievert versenkte, eingehüllt in die dicke Decke. Dann warf Dr. Handrick das Grab zu, während Hilde sich abwandte und weinend zu den Tieren ging. Aus dem Holz des Sattels fertigte Handrick ein Kreuz und steckte es in den Wüstensand, beschwerte das Grab mit Steinen und senkte den Kopf.
Ferrai, der kleine braune Junge, lag im Sand, das Gesicht nach Mekka gewendet, und betete zu Allah. Über seine schmutzigen Backen rollten Tränen.
Da nahm ihn Dr. Handrick in den Arm und streichelte ihm den lockigen Kopf, führte ihn vom Grab weg und legte den Arm um seine schmale Schulter. »Jetzt hast du uns, Ferrai«, sagte er leise, und er hörte, wie seine Stimme schwankte. »Jetzt will ich dein Herr sein.«
Und wieder zogen die Kamele durch den Sand.
Die Sonne glühte. Der Wind schwieg. Die Luft kochte. Die endlose Straße staubte unter dem Tritt der Tiere. Die Straße, an der einsam ein Kreuz stand, gezimmert aus dem Sattel eines Kamels. Ein Kreuz, das langsam zuwehte.
Im Dezember 1959 entstand in den Labors einer chemischen Fabrik in Deutschland das neue Mittel gegen die Amöbenruhr und das blutzersetzende Virus.
Dr. Paul Handrick, der den ersten Versuch mit dem Serum machte, den siebenhundertdreiundachtzigsten Versuch in einer langen Reihe, reichte die kleine Schale mit dem geretteten Blut an seine Frau Hilde weiter, die im weißen Kittel neben ihm an dem langen Labortisch stand. »Geschafft«, sagte er leise. »Ich habe das Mittel gefunden.« Er legte die Spritze aus der Hand und ergriff beide Hände seiner Frau. »Ich werde es Sieverten nennen. Sieverten 783.«
Hilde nickte. Sie blickte durch das Fenster auf den verschneiten Garten der Fabrik und auf die Tannen, die sich unter der Last des Schnees zur Erde bogen.
»Ich habe gestern einen Brief aus Algier bekommen«, sagte sie stockend. »Die französische Regierung wird Hans' Pläne verwirklichen. Die Wüste soll fruchtbar gemacht werden. Es wird in zwanzig oder dreißig Jahren keine endlose Straße mehr geben.«
Dr. Handrick schwieg. Er führte seine Frau aus dem gläsernen Raum und stieß die Tür seines Büros auf.
Ein kleiner, dunkelbrauner Junge lachte ihnen entgegen; er hatte einen großen Schal um den Hals und eine wattierte Jacke an. »Ich friere, Herr«, sagte Ferrai. »Hier ist es ja noch kälter als nachts in der Wüste.«
Da lachten sie, und dieses Lachen war eine Befreiung. In diesem Lachen wußten sie, daß sie das Leben gewonnen hatten. Sie zogen den kleinen schwarzen Ferrai an sich und streichelten ihm über das krause Haar. Seine weißen Zähne blitzten vor Freude.
Seit einigen Monaten durchziehen französische Wissenschaftler die Sahara, um nach den Plänen Dr. Sieverts Bohrungen vorzunehmen. In wenigen Wochen, nach langen klinischen Versuchen, wird das neue Mittel Sieverten 783 auf dem Weltmarkt erscheinen. Rettung für Hunderttausende.
Nur das kleine Holzkreuz an der endlosen Straße ist verschwunden. Keiner weiß, wo es geblieben ist.
Keiner? Wirklich keiner?
Wer fragt denn die Sonne, den Sand, die Luft und den Wind? Sie sind die stummen Wanderer auf der endlosen Straße …
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