Die stumme Bruderschaft
werdet Ihr mit dem Mandylion tun?«
»Nichts. Ich werde es an einem geheimen Ort aufbewahren und auf Ludwigs Freilassung warten. Dann werde ich entscheiden, was ich mache. Vielleicht war das eine Warnung unseres Herrn, um zu verhindern, dass wir sein heiliges Abbild verkaufen. Ruft die Botschafter, und sagt ihnen, wir werden ihnen geben, was wir ihren Städten schulden. Und sagt dem Comte de Dijon Bescheid. Ich werde ihm mitteilen, welches Schicksal der französische König erlitten hat.«
André de Saint-Remy breitete das Grabtuch vorsichtig aus und sah den Leib des Gekreuzigten in seiner ganzen Größe. Die Ritter fielen auf die Knie und beteten unter der Leitung ihres Oberen.
Sie hatten das Grabtuch nie ganz gesehen. In der Vitrine in der Blanchernenkirche konnte man nur das Gesicht von Jesus sehen, es sah aus wie ein gemaltes Porträt. Aber jetzt sahen sie Jesus’ ganze Gestalt mit den Spuren der Folterqualen, die er erlitten hatte. Sie beteten und merkten nicht, wie die Stunden vergingen, es wurde schon Abend, als Saint-Remy sich erhob, das Grabtuch zusammenfaltete und es mit in sein Zimmer nahm. Minuten später ließ er seinen Bruder Robert und den jungen Ritter François de Charney rufen.
»Macht euch so schnell wie möglich für die Abreise bereit.«
»Wenn Ihr es erlaubt, können wir uns in ein paar Stunden im Schutz der nächtlichen Dunkelheit auf den Weg machen.«
»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Saint-Remy.
»Nein, es ist besser, wenn wir die Festung verlassen, wenn niemand uns sehen kann und die Augen der Spione vom Schlaf geschlossen sind. Wir werden niemandem sagen, dass wir fortgehen«, sagte de Charney.
»Ich werde das Mandylion so verpacken, dass es auf der Reise keinen Schaden nimmt. Kommt es kurz vor eurer Abreise holen, ihr werdet dann auch einen Brief von mir und noch andere Dokumente für Großmeister Renaud de Vichiers mitbekommen. Weicht auf keinen Fall von eurem Weg nach Saint Jean d’Acre ab. Ich schlage euch vor, noch Brüder mitzunehmen, vielleicht Guy de Beaujeau, Bartolomé dos Capelos …«
»Bruder«, unterbrach ihn Robert, »ich bitte dich, lass uns allein gehen. Das ist sicherer. Wir fallen nicht auf, wir können auf die Hilfe unserer Knappen zählen. Wenn wir in Begleitung von Brüdern reisen, wissen die Spione sofort, dass wir etwas mit uns führen.«
»Ihr habt den größten Schatz der Christenheit bei euch …«
»… für den wir mit unserem Leben haften«, fügte de Charney hinzu.
»Dann sei es so, wie ihr sagt. Lasst mich jetzt allein, ich muss den Brief verfassen. Und betet. Betet zu Gott, dass er euch zu eurem Ziel führen möge. Der Erfolg der Mission liegt in Seiner Hand.«
Es war stockfinster. Nicht ein Stern war am Himmel zu sehen. Robert de Saint-Remy und François de Charney schlichen aus ihren Zimmern zu André de Saint-Remy. Es herrschte nächtliche Stille, und die Ritter schliefen. Nur an den Mauern hielten einige Ritter zusammen mit in ihrem Dienst stehenden Soldaten Wache.
Robert de Saint-Remy klopfte leise an die Tür seines Bruders und Oberen. Der betete vor einem Kreuz in einer Ecke des Zimmers.
Als er die Anwesenheit der beiden Ritter bemerkte, erhob er sich und reichte Robert einen Sack mittlerer Größe.
»Da drin, in einer Holzschatulle, ist das Mandylion. Hier habt ihr die Dokumente für den Großmeister und Gold für die Reise. Gott sei mit euch.«
Die beiden Brüder umarmten sich. Sie wussten nicht, ob sie sich wiedersehen würden.
De Charney und Robert de Saint-Remy legten ihre Sarazenerkleidung an und gingen zu den Pferdeställen, wo die Knappen die ungeduldigen Pferde beruhigten. Sie nannten den Wächtern am Tor die Losung und verließen die sichere Festung, um sich auf den Weg nach Saint Jean d’Acre zu machen.
32
Mendibj ging über den engen Gefängnishof und genoss die Sonnenstrahlen, die den Morgen erhellten, ohne übermäßige Hitze zu verbreiten.
Er hatte genug gehört, um auf der Hut zu sein. Die Nervosität der Psychologin und der Sozialarbeiterin sagten ihm, dass da etwas im Busch war.
Er hatte die medizinische Untersuchung über sich ergehen lassen, und er war auch noch einmal von der Psychologin begutachtet worden. Sogar der Gefängnisdirektor hatte an einer dieser ermüdenden Sitzungen teilgenommen, bei denen die Ärztin verzweifelt versucht hatte, ihn durch irgendwelche lächerlichen Reize zu einer Reaktion zu bringen. Am Ende hatte der Sicherheitsausschuss seiner Freilassung zugestimmt. Es
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