Die stumme Bruderschaft
Dann erklärte sie, weshalb sie gekommen war.
»Die Charnys sind seit Menschengedenken die Herren über diese Ländereien«, sagte Frau Didier. »Sie sollten die Kirche besuchen, da werden Sie Informationen über sie finden. Und auch in den historischen Archiven von Troyes.«
Anschließend sprach Frau Didier über das Leben in Lirey, sie klagte über die Landflucht der jungen Leute. Ihre beiden Söhne lebten in Troyes, der eine war Arzt und der andere arbeitete in einer Bank. Die gute Frau erzählte Ana haarklein alles über ihre Familie und Ana hörte ihr geduldig zu. Sie ließ den Sermon über sich ergehen, bevor sie zum Punkt kam.
»Und wie sind die Charnys? Es muss bewegend für sie sein, hierher zu kommen.«
»Die Abkömmlinge des Familienzweigs, den wir kennen, kommen nicht oft, aber wir kümmern uns um ihre Ländereien und ihre Interessen. Sie sind ein wenig hochnäsig wie alle Aristokraten. Vor ein paar Jahren war ein entfernter Verwandter von ihnen hier, ein hübscher Junge, sehr sympathisch. Er kam in Begleitung des Stiftsherrn unserer Kirche. Der hat mehr mit ihnen zu tun. Wir stehen in Kontakt zu einem Verwalter in Troyes. Ich werde Ihnen die Adresse geben, damit Sie ihn anrufen können. Monsieur Capell ist sehr liebenswürdig.«
Zwei Stunden später verließ Ana das Haus der Didiers mit etwas mehr Information als bei ihrer Ankunft. Es war spät, und so fuhr sie zurück nach Troyes, wo sie am nächsten Tag in den Archiven stöbern wollte. Anschließend würde sie erneut nach Lirey fahren und den Stiftsherrn aufsuchen, sofern er sie empfing.
Der Angestellte des städtischen Archivs von Troyes war ein junger Mann mit gepiercter Nase und drei Ohrringen an jedem Ohr, der ihr gestand, dass er sich zu Tode langweile, aber immerhin habe er Arbeit als Bibliothekar gefunden.
Ana erzählte ihm, wonach sie suchte, und Jean – so hieß der junge Mann – erbot sich, ihr behilflich zu sein.
»Also, Sie glauben, dass der Visitator des Templerordens in der Normandie ein Vorfahre von unserem Geoffroy de Charny war. Allerdings sind die Nachnamen nicht identisch.«
»Ja, aber es kann sich doch um eine geänderte Schreibweise handeln. Es wäre nicht das erste Mal, dass bei einem Nachnamen ein Buchstabe wegfällt oder hinzukommt.«
»Natürlich. Gut, das wird nicht einfach, aber wenn Sie mir zur Hand gehen, werden wir sehen, was wir finden können.«
Zuerst suchten sie in den Computerarchiven, dann in den alten Karteikarten, die noch nicht in den PC eingegeben waren. Ana war verblüfft, wie gebildet Jean war. Er war Bibliothekar und hatte einen Magister in französischer Philologie, und so war das Altfranzösische ihm sehr vertraut.
»Ich habe eine Liste mit allen Taufen in der Kirche von Lirey gefunden. Das Dokument stammt aus dem 19. Jahrhundert, von einem lokalen Gelehrten, der die Vergangenheit seines Dorfes festhalten wollte und die Kirchenarchive kopiert hat. Mal sehen, ob wir fündig werden.«
Sie arbeiteten vier Tage, und am Ende hatten sie eine Art Stammbaum der Charnys erstellt. Aber sie wussten beide, dass er nicht wirklich vollständig war.
»Ich glaube, du solltest einen Historiker aufsuchen, jemanden, der Ahnung von Stammbaumforschung hat.«
Jean und Ana duzten sich mittlerweile.
»Ja, das hat man mir schon gesagt. Aber wen? Kennst du einen?«
»Ich habe einen Freund, hier aus Troyes. Wir haben zusammen Abitur gemacht. Er ist dann nach Paris gegangen und hat in Geschichte promoviert, er war sogar Assistent. Aber dann hat er sich in eine schottische Journalistin verliebt und in weniger als drei Jahren ein Journalistikstudium hingelegt. Sie leben in Paris. Sie haben eine eigene Zeitschrift: Énigmes, Ungelöste Rätsel. Ich persönlich halte nicht viel von solchen Veröffentlichungen. Aber sie arbeiten mit Genealogen, Historikern, Wissenschaftlern zusammen. Mein Freund kann uns bestimmt jemanden nennen. Wir haben uns schon viele Jahre nicht gesehen, seit er die Schottin geheiratet hat. Sie hatte einen Unfall, und sie sind nie mehr hierher zurückgekehrt. Aber er ist ein guter Freund, und er wird dich empfangen. Doch vorher solltest du zu dem Stiftsherrn von Lirey gehen, vielleicht hat der noch andere Archive oder weiß sonst etwas über die Familie.«
Der Stiftsherr war ein freundlicher alter Herr in den Siebzigern, der sie eine Stunde nach ihrem Anruf empfing.
»Die Charnys waren diesem Ort immer sehr verbunden, sie haben die Ländereien immer behalten, aber sie leben schon seit
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