Die stumme Bruderschaft
Jahrhunderten nicht mehr hier.«
»Kennen Sie die lebenden Charnys?«
»Nun ja, einige. Es gibt Dutzende, wie Sie sich vorstellen können. Eine Familie, die Lirey am meisten verbunden ist, lebt in Paris. Es sind Leute von Rang.«
»Kommen sie oft?«
»Nein, eigentlich nicht. Sie waren seit Jahren nicht hier.«
»Eine Frau hier aus dem Ort, Madame Didier, hat mir gesagt, dass vor drei oder vier Jahren ein netter junger Mann aus der Familie hier war.«
»Ah, der Priester!«
»Der Priester?«
»Ja. Überrascht es Sie, dass jemand Priester ist?«
»Nein, keineswegs. Man hat mir nur gesagt, dass er hübsch ist, aber nicht, dass er Priester ist.«
»Das wussten sie vermutlich nicht, warum auch. Er war gekleidet wie jeder andere junge Mann in seinem Alter. Er sah nicht aus wie ein Priester, aber er ist es, und ich glaube, er hat ordentlich Karriere gemacht. Ich will damit sagen, er wird nicht als Dorfpfarrer enden. Aber er ist kein Charny, obwohl seine Vorfahren in irgendeiner Beziehung zu diesem Land stehen. Viel hat er mir auch nicht gesagt. Man rief mich aus Paris an, ich möge ihn empfangen und ihm behilflich sein.«
Das Gespräch wurde von Anas Handy unterbrochen. Sie ging dran und hörte die aufgeregte Stimme von Jean.
»Ana, ich glaube, ich hab’s!«
»Was?«
»Sag Pater Salvaing, er soll dir die Taufurkunden aus dem 12. und 13. Jahrhundert zeigen, vielleicht hast du Recht und einige der Charnys hießen vorher Charney.«
»Woher weißt du das?«
»Ich bin die Abschriften durchgegangen. Möglicherweise haben wir tatsächlich ins Schwarze getroffen. Ich schließe hier zu, und dann komme ich. Wartet auf mich, in einer halben Stunde bin ich da.«
Ana hatte Mühe, Pater Salvaing zu überreden, ihr Einblick in die Taufurkunden der Kirche zu gewähren, die in der Bibliothek wie echte Kleinode gehütet wurden.
Der alte Mann holte den Archivar, der sofort zu lamentieren begann, als er vom Ansinnen der Journalistin hörte.
»Wenn Sie eine Gelehrte wären, eine Historikerin, aber Sie sind nur eine Journalistin, die wer weiß was sucht«, sagte er verdrossen.
»Ich will nur eine möglichst komplette Geschichte des Grabtuchs verfassen.«
»Und was haben die verschiedenen Schreibweisen des Namens Charny damit zu tun?«, hakte der Archivar nach.
»Ich will wissen, ob der Visitator des Templerordens in der Normandie, Geoffroy de Charney, der zusammen mit Jacques de Molay verbrannt wurde, im Besitz des Grabtuchs war und es hier im Haus der Familie, warum auch immer, versteckt hat. Das würde erklären, warum Geoffroy de Charny vierzig Jahre später als Besitzer des Tuchs auftreten konnte.«
»Das heißt, Sie wollen beweisen, dass das Grabtuch den Templern gehört.« Die Bemerkung von Pater Salvaing war keine Frage, sondern eine Aussage.
»Und wenn nicht, dann wird sie es erfinden«, stichelte der Archivar.
»Nein, ich erfinde nichts, wenn es nicht so ist, dann ist es nicht so. Ich versuche nur zu erklären, warum das Grabtuch hier aufgetaucht ist. Es ist wahrscheinlich, dass jemand es aus dem Heiligen Land mitgebracht hat, ein Kreuzritter oder ein Templer. Wer sonst? Wenn Geoffroy de Charny versicherte, dass es echt war, dann wird er seine Gründe gehabt haben.«
»Er hat es nie bewiesen«, sagte Pater Salvaing.
»Vielleicht konnte er das nicht.«
»Ach, Unsinn!«, mischte sich der Archivar ein.
»Gestatten Sie mir eine Frage. Glauben Sie, dass das Grabtuch echt ist?«
Die beiden Männer zögerten mit der Antwort. Sie hatten ihr Leben Gott geweiht. Nur der Glaube konnte einen Menschen dazu bringen, auf Familie, auf Liebe zu verzichten. Und ihr Glaube, wie der von vielen anderen, war manchmal schwach und stürzte sie in Verzweiflung, denn intelligent, wie sie waren, konnten sie sich den Argumenten der Vernunft nicht immer entziehen.
Der Archivar sprach als Erster.
»Die Kirche lässt seit Jahrhunderten zu, dass das Schweißtuch angebetet werden darf.«
»Aber ich habe Sie nach Ihrer Meinung gefragt, die der Kirche kenne ich.«
»Liebes Kind«, sagte Salvaing, »das Grabtuch ist eine Reliquie, die von Millionen von Gläubigen verehrt wird. Ihre Echtheit ist von den Wissenschaftlern in Frage gestellt worden, und doch … ich muss gestehen, ich war bewegt, als ich sie in der Kathedrale von Turin sah. Es ist etwas Übernatürliches an dem Tuch, ganz gleich was die C-14-Methode sagt.«
Als Jean kam, war Ana immer noch dabei, die beiden Männer zu überreden, sie an die Archive zu lassen.
Der Obere und
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