Die stumme Bruderschaft
Lirey.
»Dokumentierte Chroniken der damaligen Zeit versichern, dass Geoffroy de Charny, Herr von Lirey, 1349 bekannt gab, er besitze ein Grabtuch mit dem Abdruck von Jesus’ Körper, das seine Familie sehr verehre. Der Adelige richtete Gesuche an den Papst und den französischen König, eine Kirche errichten zu dürfen, damit das Grabtuch für die Gläubigen ausgestellt werden könne. Weder der Papst noch der König antworteten, also konnte die Kirche nicht gebaut werden, aber das Grabtuch wurde mit Unterstützung der Geistlichen von Lirey, die darin eine Chance sahen, ihren Einfluss und ihre Bedeutung zu vergrößern, zum Gegenstand religiöser Verehrung.«
»Aber wo hatte de Charny das Grabtuch her?«
»In dem Brief, den er an den französischen König geschrieben hat, versichert er, er habe geheim gehalten, dass er das Grabtuch besitzt, weil er keinen Streit zwischen Christen provozieren wolle. Es waren schon andere Grabtücher an so verschiedenen Orten wie Aachen, Jaén, Toulouse, Mainz und Rom aufgetaucht. Und in Rom war seit 1350 ein Schweißtuch in der Basilika des Vatikans ausgestellt, das man natürlich für authentisch hielt. Geoffroy de Charny schwor dem König und dem Papst bei der Ehre seiner Familie, dass sein Grabtuch das echte sei, aber er hat nie gesagt, wie es in seine Hände kam. Familienerbe? Hatte er es gekauft? Wir wissen es nicht.
De Charny starb in Poitiers, wo er den König Frankreichs rettete, indem er ihn in der Schlacht mit seinem eigenen Körper schützte. Seine Witwe schenkte das Tuch der Kirche von Lirey, die örtlichen Stiftsherren wurden reich, was wiederum den Neid der Prälaten anderer Dörfer und Städte hervorrief, und das Ganze wuchs sich zu einem riesigen Konflikt aus.
Der Bischof von Troyes ließ Nachforschungen anstellen. Er konnte sogar einen wichtigen Zeugen präsentieren, der die Echtheit des Tuchs bestritt. Ein Maler behauptete, das Bild darauf im Auftrag des Herrn von Lirey angefertigt zu haben, und so schaffte es der Bischof, dass die Ausstellung des Grabtuchs verboten wurde.
Ein anderer Geoffroy, Geoffroy de Charny II., erreichte Jahre später, genau gesagt 1389, dass Papst Clemens VII. ihm die Genehmigung erteilte, das Schweißtuch auszustellen. Der Bischof von Troyes intervenierte erneut. Er hatte Angst, die Pilger würden in Scharen zu dem Grabtuch abwandern. Er erreichte, dass das Grabtuch für ein paar Monate wieder in seine Truhe zurückkehrte und nicht ausgestellt wurde. Doch Geoffroy de Charny kam schließlich mit dem Papst zu einer Einigung: Er durfte das Grabtuch ausstellen, allerdings mussten die Geistlichen von Lirey den Gläubigen erklären, dass es sich um ein gemaltes Abbild des echten Grabtuchs Christi handelte.«
Mit monotoner Stimme setzte Elianne Marchais ihren Geschichtsüberblick fort und erklärte, die Tochter von Geoffroy II., Marguerite de Charny, habe das Grabtuch später im Schloss ihres zweiten Mannes, des Comte La Roche, aufbewahrt.
»Warum?«, fragte Ana.
»Weil im Jahr 1415, während des Hundertjährigen Krieges, Plünderungen an der Tagesordnung waren. Sie fand, die Reliquie sei im Schloss ihres Mannes in Saint Hippolyte-sur-le-Doubs sicherer. Sie war eine eigenartige Frau, denn als sie zum zweiten Mal Witwe wurde, erhöhte sie ihre spärlichen Einkünfte, die ihr Mann ihr hinterlassen hatte, indem sie Almosen von denen nahm, die das Grabtuch Christi sehen und davor beten wollten.
Ihre finanzielle Not war es auch, die sie dazu zwang, die Reliquie schließlich an das Haus Savoyen zu verkaufen. Das Datum der Übergabe war der 22. März 1453. Die Stiftsherren von Lirey protestierten, weil sie sich als die rechtmäßigen Eigentümer des Tuchs betrachteten, da die Witwe des ersten Geoffroy es ihnen überlassen hatte. Aber Marguerite kümmerte sich nicht darum und erfreute sich an Schloss Varambom und den Einnahmen aus dem Gut Miribel, die ihr das Haus Savoyen im Tausch für das Tuch überlassen hatte. Es gibt einen dementsprechend lautenden, von Ludwig I., Herzog von Savoyen, unterzeichneten Vertrag. Von da an ist die Geschichte des Grabtuchs allgemein bekannt.«
»Halten Sie es für möglich, dass das Grabtuch über die Templer nach Frankreich gekommen ist?«
»Ach, die Templer! Was für Legenden ranken sich um sie und wie ungerecht sind sie aus Unwissenheit behandelt worden! Alles Schund, diese ganze Pseudoliteratur über die Templer. Und wissen Sie, warum? Viele Freimaurer-Logen behaupten, sie seien die Nachfahren des
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