Die stumme Bruderschaft
der Archivar schauten Jean mit einem gewissen Widerwillen an, aber dieser hatte sie binnen kurzem überredet, sie einen Blick auf die Urkunden werfen zu lassen. Er bat den Archivar, ihnen behilflich zu sein.
Sie brauchten noch ein paar Stunden, aber dann hatten sie es: Es gab neben den Charnys auch Charneys in Lirey, und sie waren miteinander verwandt.
Als sie wieder in Troyes waren, lud Ana Jean zum Essen ein.
»Wir haben’s.«
»Nun, du hattest Recht, die beiden Geoffroys waren wirklich verwandt.«
»Eigentlich bin nicht ich darauf gekommen. Ein Kommentar von Professorin Elianne Marchais brachte mich auf die Spur. Jetzt bin ich fast sicher, dass Geoffroy de Charney der Besitzer des Grabtuchs war. Bestimmt hat er es malen lassen oder im Heiligen Land guten Glaubens gekauft.«
»Wenn es echt wäre, wäre es bei den Templern. Vergiss nicht, dass die Ritter das Armutsgelübde ablegten und nichts besaßen. Also ist es schon merkwürdig, dass dieser Templer das Grabtuch gehabt haben soll. Und auch wenn die beiden verwandt waren – vielleicht behaupten wir ja trotzdem zu Unrecht, dass der Erste das Grabtuch besaß.«
»Aber er war im Heiligen Land«, insistierte Ana.
»Ana, deine Theorie ist interessant, aber sie ist an den Haaren herbeigezogen, und das weißt du. Deswegen glaube ich auch nicht, was in den Zeitungen steht. Manchmal stellt ihr Journalisten etwas als Gewissheit hin, das in Wirklichkeit nur wahrscheinlich ist.«
»Wieder einer, der eine schlechte Meinung über Journalisten hat!«
»Keine schlechte Meinung. Ein gewisses Misstrauen, ja.«
»Aber wir lügen nicht.«
»Ich behaupte auch nicht, dass ihr lügt. Das, was ihr schreibt, hat bestimmt oft eine reale Grundlage, aber das heißt noch lange nicht, dass es immer wahr ist. Ich will sagen, versuch möglichst genau zu sein, wenn du hierüber schreibst. Sonst halten die Leute es für eine von diesen esoterischen Geschichten über das Grabtuch, und davon gibt es weiß Gott genug.«
Ana vertraute Jean. Sie hatten sich erst vor einer Woche kennen gelernt, und doch hatte sie den Eindruck, ihn schon seit langem zu kennen. Jean war sensibel, intelligent und vernünftig. Hinter seinem etwas verkommenen Äußeren verbarg sich eine integre Persönlichkeit.
Sie erzählte ihm alles, was sie wusste, nur das Dezernat für Kunstdelikte und ihren Bruder Santiago ließ sie aus, und wartete dann gespannt auf seine Meinung.
»Für ein esoterisches Buch nicht schlecht. Aber ehrlich gesagt, Ana, du sprichst nur von Ahnungen und Gefühlen. Das taugt vielleicht, wenn es gut aufgemacht ist, für eine Zeitschrift, aber nichts davon stützt sich auf einen Beweis, nichts. Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, aber wenn ich in einer Zeitung so eine Geschichte lesen würde, würde ich sie nicht glauben. Ich würde denken, schon wieder die typische Ausgeburt der Phantasie eines dieser Pseudoautoren, die über Ufos schreiben und an jeder Ecke Geheimnisse sehen.«
Ana konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen, obwohl sie sich innerlich eingestehen musste, dass Jean Recht hatte. Ihre Theorien hatten keine solide Basis.
»Ich werde nicht aufgeben, Jean. Wenn ich keine haltbaren Beweise finde, werde ich nicht eine Zeile schreiben, das habe ich mit mir selbst abgemacht. Ich will die, die mir geholfen haben nicht enttäuschen. Aber ich werde weitersuchen. Jetzt muss ich herausfinden, ob ein Charny, den ich kenne, mit diesen Charnys zu tun hat.«
»Wer ist dieser Charny, den du kennst?«
»Ein sehr attraktiver, interessanter Mann, ein wenig geheimnisvoll. Ich werde nach Paris reisen, dort wird es leichter sein, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen – wenn es seine Familie ist.«
»Ich würde dich gern begleiten.«
»Dann mach das doch.«
»Ich kann nicht, ich müsste Urlaub beantragen, und so von einem auf den anderen Tag bekomme ich das nicht genehmigt. Was hast du sonst noch vor?«
»Bevor ich gehe, werde ich bei Monsieur Capell, dem Verwalter der Charnys, vorbeischauen. Außerdem wolltest du mich doch deinem Freund vorstellen, der diese Zeitschrift hat. Von Paris werde ich nach Turin fahren, aber das hängt davon ab, was ich in Paris herausfinde. Ich rufe dich an und halte dich auf dem Laufenden. Du bist der einzige Mensch, mit dem ich offen über dieses Thema sprechen kann. Und mit deinem gesunden Menschenverstand wirst du meine allzu rege Phantasie schon bremsen.«
Monsieur Capell war ein ernster, wortkarger Mann, der Ana höflich klar machte, dass er
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