Die stumme Bruderschaft
Königin an und zum ersten Mal bemerkte er, dass ihre frühere Schönheit verblasst war.
Das Haar, das zwischen den Falten ihres Schleiers hervorsah, war grau. Sie war gealtert, aber sie hatte immer noch denselben Glanz im Blick und den majestätischen Gesichtsausdruck. Was würde aus ihr werden? Er war sicher, dass Maanu, ihr Sohn, sie hasste.
Abgarus ahnte Josars Sorge. Er wusste, dass sein Freund immer heimlich in die Königin verliebt gewesen war.
»Josar, ich habe die Königin gebeten zu gehen, jetzt ist noch Zeit, aber sie weist mein Ansinnen zurück.«
»Meine Königin«, sagte Josar, »Euer Leben ist in größerer Gefahr als das unsrige.«
»Josar, ich bin die Königin von Edessa, und eine Königin flieht nicht. Wenn ich sterben muss, dann werde ich das hier tun, zusammen mit denen, die wie ich an Jesus glauben. Ich werde diejenigen nicht verlassen, die uns vertraut haben, die Freunde, mit denen ich gemeinsam gebetet habe. Ich werde bei Abgarus bleiben, ich könnte es nicht ertragen, ihn in diesem Palast seinem Schicksal zu überlassen. Solange der König lebt, wird Maanu nicht wagen, die Hand gegen mich zu erheben. Jetzt hört euch den Plan des Königs an.«
Abgarus richtete sich auf und drückte dabei die Hand der Königin. In den letzten Tagen hatten sie bis zum Morgengrauen über den Plan gesprochen, den sie jetzt ihren nächsten Freunden darlegen wollten.
»Mein letzter Wille ist, dass ihr das Leichentuch von Jesus rettet. An mir hat es das Wunder vollbracht, mir das Leben zu schenken, und ich bin alt geworden. Das heilige Tuch gehört mir nicht, es gehört allen Christen, und für die müsst ihr es retten, aber, ich bitte euch, es muss in Edessa bleiben, die Stadt soll es in alle Ewigkeit bewahren. Jesus wollte hierher kommen, und hier wird er bleiben. Thaddäus, Josar, ihr gebt das Leichentuch Marcius. Und Marcius, du weißt, wo du es zu verstecken hast, um es vor Maanus Zorn zu retten. Von dir, Senin, erwarte ich, dass du die Flucht von Thaddäus, Josar und dem jungen Izaz organisierst. Mein Sohn wird nicht wagen, eine deiner Karawanen anzugreifen. Ich stelle sie unter deinen Schutz.«
»Abgarus, wo soll ich das heilige Tuch verstecken?«, fragte Marcius.
»Das musst du entscheiden, mein guter Freund. Weder die Königin noch ich dürfen es wissen. Du musst jemanden auswählen, dem du das Geheimnis verrätst, und ihn dann ebenfalls mit Senins Hilfe in Sicherheit bringen. Ich spüre, dass mein Leben erlischt. Ich weiß nicht, wie viele Tage mir noch bleiben, ich hoffe, genug, damit ihr tun könnt, worum ich euch gebeten habe.«
Und weil dies vielleicht die letzte Gelegenheit war, verabschiedete sich der König in der nächsten Stunde herzlich von ihnen allen.
Die Sonne ging auf, als Marcius an der Westmauer ankam. Die Arbeiter warteten auf ihn. Als königlicher Architekt war Marcius nicht nur damit betraut, Gebäude zum Ruhme von Edessa zu errichten; er kümmerte sich um sämtliche Bauarbeiten in der Stadt, so auch die an der Westmauer, wo ein neues Tor entstehen sollte.
Er war überrascht, als er Marvuz mit dem Vorarbeiter Jeremín sprechen sah.
»Sei gegrüßt, Marcius.«
»Was hat der Chef der königlichen Leibwache hier zu suchen? Hat der König mich rufen lassen?«
»Maanu hat mich geschickt, der bald König sein wird.«
»So Gott will.«
Marvuz’ Gelächter hallte durch die morgendliche Stille.
»Er wird es sein, Marcius, er wird es sein, und das weißt du, du warst gestern bei Abgarus, und es ist offenkundig, dass er im Sterben liegt.«
»Was willst du? Sag schon, ich habe zu tun.«
»Maanu will wissen, was Abgarus verfügt hat. Er weiß, dass du, Senin, Thaddäus, Josar und Izaz, der Schreiber, bis tief in die Nacht am Sterbebett des Königs wart. Der Prinz sagt, du sollst wissen, wenn du ihm gegenüber loyal bist, wird dir nichts passieren. Wenn nicht, kann er für nichts garantieren.«
»Willst du mir in Maanus Namen drohen? Hat der Prinz so wenig Selbstachtung? Ich bin alt, ich habe nichts zu fürchten. Maanu kann mir nur das Leben nehmen, und das neigt sich ohnehin seinem Ende zu. Und jetzt geh, und lass mich arbeiten.«
»Verrätst du mir, was Abgarus gesagt hat?«
Marcius wandte sich ab, ohne Marvuz eine Antwort zu geben, und begann, den Lehmmörtel zu untersuchen, den einer der Arbeiter anrührte.
»Das wird dir noch Leid tun, Marcius«, rief Marvuz, während er das Pferd wenden ließ und im Galopp zum Palast zurückeilte.
In den folgenden Stunden wirkte
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