Die stumme Bruderschaft
ihre Gebete diesen Jesus erreichten, der Abgarus von der furchtbaren Krankheit geheilt hatte. Er kümmerte sich auch um die Gläubigen, die sich in einem neuen Tempel versammelten, den der große Marcius, der königliche Architekt, erbaut hatte.
Thaddäus hatte Marcius gebeten, der neue Tempel möge so einfach gehalten sein wie der erste, nur ein Haus mit einem großen Atrium, wo er Jesus’ Wort predigen konnte. Er hatte Marcius erklärt, dass der Nazarener die Händler aus dem Tempel in Jerusalem vertrieben hatte, und dass Jesus’ Geist nur dort sein kann, wo Einfachheit und Frieden herrschen.
12
Der Morgen graute über dem Bosporus, als die Stella di Mare die Gewässer vor Istanbul durchquerte. An Deck waren die Seeleute damit beschäftigt, die Landung vorzubereiten.
Der Kapitän beobachtete den dunkelhäutigen jungen Mann, der still das Deck schrubbte. In Genua war einer seiner Seeleute krank geworden und hatte an Land bleiben müssen, und da hatte sein Adjutant ihm diesen Stummen gebracht, und ihm versichert, er könne zwar nicht reden, aber er sei ein guter Seemann. Weil sie so schnell wie möglich in See stechen mussten, hatte er in dem Moment gar nicht bemerkt, dass die Hände des angeblichen Seemanns nicht eine einzige Schwiele hatten. Die Haut war glatt. Das waren die Hände von jemandem, der noch nie wirklich mit den Händen gearbeitet hatte. Aber der Stumme tat die ganze Fahrt über, was man ihm befahl, und seine Augen zeigten keinerlei Gefühlsregung, ganz gleich, welche Arbeit man ihm auftrug. Sein Adjutant hatte behauptet, ein Stammkunde in einer der Hafenkneipen habe ihn empfohlen und deswegen habe er ihn an Bord gebracht. Der Kapitän wusste, dass sein Adjutant log, aber er verstand nicht, warum.
Der Adjutant hatte gesagt, dass der Stumme in Istanbul von Bord gehen und nicht weiter auf dem Schiff arbeiten werde, und als er ihn gefragt hatte, warum und woher er das wisse, hatte der nur mit den Achseln gezuckt.
Der Kapitän war aus Genua, er fuhr seit vierzig Jahren zur See, hatte an zahllosen Häfen angelegt und alle möglichen Menschen kennen gelernt, aber jemand wie dieser Junge war ihm noch nicht begegnet, das Scheitern, die Resignation standen ihm ins Gesicht geschrieben, so als wüsste er, dass er am Ende war. Aber am Ende wovon? Und warum?
Istanbul kam ihm schöner vor denn je. Der Stumme seufzte lautlos und blickte suchend zum Hafen hinüber. Es würde jemand kommen, um ihn abzuholen, vielleicht derselbe Mann, der ihn bei seiner Ankunft in Urfa versteckt hatte. Er wollte in seine Stadt zurückkehren, seinen Vater umarmen, seine Frau wiedersehen und das fröhliche Lachen seiner Tochter hören.
Er fürchtete sich vor dem Treffen mit Addaio, vor seiner Enttäuschung. Aber in diesem Moment machte ihm seine Niederlage wenig aus, er fühlte sich lebendig, und bald würde er zu Hause sein. Das war mehr, als sein Bruder vor zwei Jahren erreicht hatte. Der Mann aus der Kathedrale hatte gesagt, dass Mendibj immer noch im Gefängnis war, obwohl sie nichts mehr von ihm gehört hatten seit dem schicksalhaften Tag, an dem man ihn wie einen gewöhnlichen Taschendieb verhaftet hatte. Die Zeitungen hatten damals geschrieben, der geheimnisvolle Dieb sei zu drei Jahren verurteilt worden, dann müsste er in einem Jahr freikommen.
Er verließ das Schiff, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Am Abend zuvor hatte der Kapitän ihm den vereinbarten Lohn gegeben und ihn gefragt, ob er nicht weiter mit seiner Besatzung fahren wolle. Er hatte den Kopf geschüttelt.
Er verließ den Hafen und wusste nicht recht, wohin er gehen sollte. Wenn der Mann in Istanbul nicht auftauchte, würde er selbst Mittel und Wege finden, nach Urfa zu kommen. Er hatte das Geld, das er als Seemann verdient hatte.
Er hörte eilige Schritte hinter sich, und als er sich umdrehte, erkannte er den Mann, der ihm einige Monate zuvor Unterschlupf gewährt hatte.
»Ich bin schon eine Weile hinter dir und beobachte dich, ich musste sichergehen, dass dir niemand folgt. Du wirst heute Nacht bei mir schlafen, morgen früh kommen sie dich holen. Bis dahin solltest du das Haus besser nicht verlassen.«
Er nickte. Er wäre gerne durch Istanbul gegangen, durch die Gässchen des Bazars geschlendert, um seiner Frau ein Parfum zu kaufen und ein Geschenk für seine Tochter, aber er würde es nicht tun. Jeder weitere Ärger würde Addaio noch mehr erzürnen, und er war trotz seines Scheiterns froh, zurückkehren zu dürfen. Er wollte nicht,
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