Die stumme Bruderschaft
nicht hergeben wollten.«
»Ja. Im Jahr 944 bemächtigten sich die Byzantiner des Mandylions. Der Kaiser von Byzanz, Romanos Lekapenos, wollte das Mandylion, wie es von den Griechen genannt wurde, haben, weil er glaubte, er könne dann auf Gottes Schutz zählen und sei unbesiegbar. Er schickte ein Heer nach Edessa und schlug dem Emir einen Pakt vor: Wenn er ihm das Grabtuch übergäbe, würde sich das Heer friedlich zurückziehen, er würde ihn großzügig entlohnen und zweihundert mohammedanische Kriegsgefangene freilassen.
Aber die christliche Gemeinde von Edessa weigerte sich, dem Emir das Mandylion auszuhändigen, und dieser beschloss, obwohl er Mohammedaner war, zu kämpfen, weil er fürchtete, das Tuch könne magische Kräfte besitzen. Die Byzantiner gewannen, und das Mandylion wurde am 16. August 944 nach Byzanz gebracht. Für die byzantinische Liturgie ein Gedenktag. In den Archiven des Vatikan befindet sich der Text der Predigt des Erzdechanten Gregorius, der das Tuch in Empfang nahm.
Der Kaiser ließ es in der Blanchernenkirche aufbewahren, wo es jeden Freitag von den Gläubigen verehrt wurde. Von dort verschwand es, bis zu seinem Wiederauftauchen in Frankreich im 14. Jahrhundert.«
»Ob es die Templer an sich genommen haben? Einige Autoren behaupten das.«
»Das ist schwer zu beantworten. Den Templern sagt man alles Mögliche nach. Man stellt sie sich als Übermenschen vor, die alles können. Kann sein, dass sie sich des Grabtuchs bemächtigt haben, vielleicht aber auch nicht. Die Kreuzritter haben Tod und Verwirrung gesät, wo sie hinkamen. Vielleicht hat Balduin von Courtenay, als er Kaiser von Konstantinopel wurde, es verpfändet – von da an war es jedenfalls weg.«
»Konnte er das denn?«
»Es ist eine von vielen Theorien. Er hatte kein Geld, um sein Reich zu unterhalten. Er ging bei den Königen und adeligen Herrschaften Europas betteln und verkaufte viele Reliquien, die die Kreuzritter aus dem Heiligen Land mitgebracht hatten, unter anderem an seinen Onkel, König Ludwig von Frankreich. Vielleicht haben die Templer, die ja damals als Bankiers fungierten und unter anderem heilige Reliquien zurückkauften, Balduin das Grabtuch abgekauft. Aber es gibt kein Dokument, das dies belegen würde.«
»Ich glaube, die Templer haben es in Besitz genommen.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht, aber Sie haben die Möglichkeit doch selbst erwähnt. Sie haben es nach Frankreich geschafft, wo es später wieder aufgetaucht ist.«
Die beiden unterhielten sich noch eine ganze Weile, Ana spekulierte über die Templer, und Sofia trug die historischen Fakten vor.
Auf dem Weg zum Aufzug trafen sie Marco und Giuseppe.
»Was machst du denn hier?«, fragte Giuseppe.
»Ich habe mit Ana zu Abend gegessen, und wir haben uns prächtig unterhalten.«
Marco machte keinerlei Bemerkung, grüßte Ana freundlich, und bat Sofia und Giuseppe, ihn auf einen letzten Drink in die Hotelbar zu begleiten.
»Was ist passiert?«
»Bonomi hat sich danebenbenommen. Er wollte mir sagen, dass ich gut aussehe, und hat mich dabei fast beleidigt. Ich habe mich äußerst unwohl gefühlt, und als die Oper vorbei war, bin ich gegangen. Marco, ich will nicht irgendwo sein, wo ich nicht hingehöre, ich fühlte mich gedemütigt.«
»Und D’Alaqua?«
»Er hat sich wie ein Kavalier verhalten und Kardinal Visier überraschenderweise auch. Wir sollten sie in Ruhe lassen.«
»Wir werden sehen. Ich will nichts außer Acht lassen, so abstrus es auf den ersten Blick auch scheinen mag. Diesmal nicht.«
Auf dem Bettrand sitzend – der Rest war voll von Papieren, Notizen und Büchern – dachte Ana Jiménez über das Gespräch mit Sofia nach.
Wie war dieser Romanos Lekapenos wohl gewesen, der den Einwohnern von Edessa das Grabtuch geraubt hatte? Sie stellte sich ihn grausam, abergläubisch, machtgierig vor.
Die Geschichte des Grabtuchs war in der Tat nicht gerade friedlich verlaufen: Kriege, Brände, Diebstähle … und alles nur, um in seinen Besitz zu gelangen – nur weil die Menschen glauben, dass es Dinge mit übernatürlichen Kräften gibt.
Sie war nicht katholisch, zumindest nicht richtig; sie war getauft wie fast jeder in Spanien, aber sie konnte sich nicht erinnern, nach der ersten Kommunion noch einmal in einer Messe gewesen zu sein.
Sie schob die Papiere beiseite, sie war müde, und wie fast immer vor dem Zubettgehen nahm sie den Gedichtband von Kavafis in die Hand und suchte abwesend nach ihrem Lieblingsgedicht:
Ideale und
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