Die stumme Bruderschaft
der offen mit ihm sprach, der sich traute, ihn zu kritisieren. Wenn er es recht bedachte, hatte sein Ton manchmal sogar etwas Herausforderndes. Aber nein, Guner würde ihn nicht verraten, es war dumm von ihm gewesen, so etwas zu denken. Wenn er ihm nicht mehr traute, könnte er die Last nicht mehr tragen, die auf ihm ruhte.
Er hörte ein leises Klopfen und öffnete die Tür.
»Habe ich dich geweckt, Guner?«
»Ich kann seit Tagen nicht schlafen. Wird Mendibj sterben?«
»Du bist aufgestanden, um mich nach Mendibj zu fragen?«
»Gibt es etwas Wichtigeres als ein Menschenleben?«
»Willst du mich quälen?«
»Nein, da sei Gott vor, ich will nur an dein Gewissen appellieren. Du musst diesem Wahnsinn endlich Einhalt gebieten.«
»Geh, Guner, ich bin müde.«
Guner drehte sich um und verließ das Zimmer und Addaio ballte die Fäuste und versuchte, den aufsteigenden Zorn zu unterdrücken.
30
Haben Sie eine schlechte Nacht gehabt«, fragte Giuseppe Ana, die abwesend an einem Croissant kaute.
»Ach, Sie sind es! Guten Morgen. Ja, ich hatte in der Tat eine schlechte Nacht. Und die Dottoressa Galloni?«
»Sie kommt gleich runter. Haben Sie meinen Chef gesehen?«
»Nein. Ich bin gerade erst gekommen.«
Die Tische des Frühstücksraums waren alle besetzt, also setzte sich G iuseppe kurzerhand zu Ana.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich hier meinen Kaffee trinke?«
»Überhaupt nicht. Wie laufen die Ermittlungen?«
»Zäh. Und bei Ihnen?«
»Ich vertiefe mich in die Geschichte. Ich habe ein paar Bücher gelesen, Informationen im Internet gesucht, aber offen gesagt, habe ich gestern Abend mehr von Sofia erfahren, als aus all dem, was ich in den letzten Tagen gelesen habe.«
»Ja, Sofia erklärt die Dinge so, dass du sie vor dir siehst. Mir geht es mit ihr genauso. Sagen Sie, haben Sie eine Theorie?«
»Nichts Brauchbares. Mein Kopf ist heute schwer, ich habe Alpträume gehabt.«
»Das spricht dafür, dass Sie kein gutes Gewissen haben.«
»Wie bitte?«
»Das sagte meine Mutter immer, wenn ich als Kind schreiend aufwachte. Sie fragte mich:« Giuseppe, was hast du heute wieder angestellt? »Meine Mutter sagte, Alpträume seien ein Wink des Gewissens.«
»Aber ich erinnere mich nicht, gestern etwas getan zu haben, das mein Gewissen belasten könnte. Sind Sie nur Polizist oder auch Historiker?«
»Nur Polizist, und das reicht auch. Aber ich habe das Glück, im Dezernat für Kunstdelikte zu arbeiten. Ich habe in den Jahren an Marcos Seite viel gelernt.«
»Wie ich sehe, bewundern Sie alle Ihren Chef.«
»Ja, Ihr Bruder hat Ihnen bestimmt schon von ihm erzählt.«
»Santiago schätzt ihn sehr. Er hat mich an einem Abend zu Marco zum Essen mitgenommen, und ich habe ihn noch bei zwei oder drei anderen Gelegenheiten gesehen.«
Sofia kam in den Frühstücksraum und entdeckte sie sofort.
»Was ist los, Ana?«
»So langsam mache ich mir Gedanken. Merkt man mir so deutlich an, dass ich eine schlechte Nacht hatte?«
»Als hättest du in einer Schlacht gekämpft.«
»Ich war tatsächlich in einer Schlacht. Ich habe zerstückelte Kinder gesehen, vergewaltigte Mütter, ich habe sogar den Brandgeruch in der Nase gehabt. Es war schrecklich.«
»Das sieht man dir an.«
»Sofia, ich weiß, ich gehe dir vielleicht auf den Wecker, aber ich würde gerne mit dir sprechen, wenn du heute ein wenig Zeit hast.«
»Gut. Ich kann noch nicht genau sagen wann, aber im Prinzip spricht nichts dagegen.«
Marco kam, eine Notiz lesend, an den Tisch.
»Guten Morgen, allerseits. Sofia, ich habe hier eine Nachricht von Pater Charny. Bolard erwartet uns in zehn Minuten in der Kathedrale.«
»Wer ist Pater Charny?«, fragte Ana.
»Pater Yves de Charny«, antwortete Sofia.
»Seien Sie nicht so neugierig, Ana«, sagte Marco.
»Davon lebe ich.«
»Gut, wenn ihr gefrühstückt habt, dann macht euch an die Arbeit, Giuseppe, du …«
»Ja, ich bin schon auf dem Weg, ich rufe dich dann an.«
»Los, Sofia, wenn wir uns beeilen, kommen wir noch pünktlich zu der Verabredung mit Bolard. Einen schönen Tag, Ana.«
»Ich werde mir Mühe geben.«
Auf dem Weg zur Kathedrale fragte Marco Sofia über Ana Jiménez aus.
»Was weiß sie?«
»Keine Ahnung, sie fragt ständig, aber sie sagt nichts. Sie wirkt ein wenig hilflos, aber sie hat mehr drauf, als es scheint. Es sieht so aus, als hätte sie nichts in der Hand, aber da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Sie ist sehr jung.«
»Aber klug.«
»Umso besser für sie. Ich habe mit
Weitere Kostenlose Bücher