Die stumme Bruderschaft
geliebte Stimmen derer, die gestorben sind,
oder derer,
Die für uns verloren sind wie die Toten.
Oft sprechen sie in unseren Träumen,
Oft, in Gedanken versunken, hört sie der Geist.
Und mit ihrem Echo kehren für einen Augenblick
Die Geräusche der Urdichtung unseres Lebens zurück,
Wie Musik in der Nacht, die in der Ferne verklingt.
Sie schlief ein in Gedanken an die Schlacht des byzantinischen Heeres gegen den Emir von Edessa. Sie hörte die Stimme der Soldaten, das Knistern von brennendem Holz, das Weinen der Kinder, die voller Angst an der Hand ihrer Mütter nach einem Platz suchten, um ihr Leben zu retten. Sie sah einen ehrwürdigen alten Mann, umgeben von anderen alten Männern mit ernsten Mienen, die auf Knien ein Wunder erflehten, das nicht eintrat.
Dann ging der alte Mann zu einer Vitrine, holte ein sorgfältig gefaltetes Tuch hervor und übergab es einem kräftigen Soldaten, der seine unbändige Freude darüber, dass er diesen Menschen ihre geschätzte Reliquie wegnahm, nicht verbergen konnte.
Sie hatten hart um das Mandylion der Christen gekämpft, denn Jesus war ein großer Prophet, Allah habe ihn selig.
Der General der byzantinischen Truppen machte sich eilig auf den Weg nach Konstantinopel.
Rauch verdunkelte die Hausmauern. Die byzantinischen Soldaten gingen auf Raubzug und luden ihre Beute auf Eselskarren.
Der alte Bischof von Edessa fühlte sich von Gott verlassen. Später schworen er, die Priester und die treuesten Gläubigen in der Kirche, die der Zerstörungswut standgehalten hatte, dass sie das Mandylion zurückholen würden, selbst wenn es sie das Leben kostete.
Sie, die Abkömmlinge von Ticius, dem Schreiber, von Obodas, von Izaz, von Johannes, dem Alexandriner, und vielen anderen Christen, die ihr Leben für das Mandylion geopfert hatten, würden es zurückholen, und wenn es ihnen nicht gelänge, dann würden ihre Nachkommen nicht ruhen, bis sie die Mission erfüllt hatten. Sie schworen es vor Gott und vor dem mächtigen Holzkreuz auf dem Altar, vor dem Abbild von Maria, vor der Heiligen Schrift.
Ana wachte schreiend auf. Der Alptraum war so lebendig gewesen, dass ihr die Angst tief in den Gliedern saß.
Sie trank ein Glas Wasser und öffnete das Fenster, um die kühle Morgenluft hereinzulassen.
Kavafis’ Gedicht schien Wirklichkeit geworden zu sein, die Stimmen der Toten waren in ihren Traum eingefallen. Sie spürte, dass das, was sie im Traum gesehen und gehört hatte, in Wirklichkeit geschehen war. Sie war sich ganz sicher.
Nach einer Dusche fühlte sie sich besser. Sie hatte keinen Hunger, also blieb sie noch eine Weile auf dem Zimmer und suchte in den Büchern, die sie gekauft hatte, nach Informationen über Balduin von Courtenay, den bettelnden König. Da gab es nicht viel, also ging sie ins Internet, obwohl sie den Informationen dort nicht traute. Dann suchte sie Informationen über die Templer, und zu ihrer Überraschung fand sie eine Seite, die anscheinend dem Orden selbst gehörte, obwohl die Templer angeblich gar nicht mehr existierten. Sie rief den EDV-Chef ihrer Zeitung an und erklärte ihm, was sie wissen wollte. Eine halbe Stunde später rief er zurück. Die Adresse dieser Webseite der Templer war registriert, in London, alles vollkommen legal.
29
Addaio betrat möglichst geräuschlos das Haus. Er war müde von der Reise. Er war direkt nach Urfa gefahren, ohne in Istanbul Station zu machen.
Guner würde überrascht sein, wenn er ihn am Morgen anträfe. Er hatte ihm nichts von seiner Rückkehr gesagt und den anderen der Gemeinschaft auch nicht.
Bakkalbasi war in Berlin geblieben. Von dort würde er nach Zürich reisen, um das Geld zu holen, mit dem sie die beiden Männer im Gefängnis für den Mord an Mendibj bezahlen würden.
Mendibj musste sterben. Er war ein guter Junge, liebenswürdig, klug, aber die Gefahr war zu groß, dass durch ihn die Gemeinschaft auffliegen könnte.
Sie hatten die Perser überlebt, die Kreuzritter, die Byzantiner, die Türken. Sie lebten seit Jahrhunderten im Untergrund und erfüllten die ihnen auferlegte Mission.
Gott müsste sie begünstigen, weil sie die wahren Christen waren, aber das tat er nicht, er sandte ihnen schreckliche Prüfungen, und jetzt musste Mendibj sterben.
Er ging langsam die Treppe hoch, in sein Schlafzimmer. Das Bett war frisch bezogen. Guner hatte ihm immer treu gedient und versucht, ihm das Leben angenehm zu machen, er hatte ihm jeden Wunsch von den Augen abgelesen.
Er war der einzige Mensch,
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